Das Präkariat als TV-Sozialporno

Malte Olschewski - Der Triumph des Siegers ist nur halb so schön, wenn er sich nicht am Elend des Verlierers weiden kann. In der Wirklichkeit ist das nur selten möglich, da Gewinner und Unterlegene in verschiedenen Welten leben und voneinander getrennt sind. Doch will man sich trotzdem an der Not des abgehängten Präkariats ergötzen. Und schon ist das Fernsehen zur Stelle. In letzter Zeit ist eine Zunahme von Sendungen zu verzeichnen, die als Sozialpornos relativ hohe Einschaltquoten erreichen. Früher war es das Proletariat, das sich aber organisieren konnte. Dem Präkariat fehlt diese Fähigkeit. Aber es liefert Darsteller in die elektronische Peep-Show.
In Deutschland werden die Sozialpornos meist als Gerichts-Shows verkleidet. Auch wenn auf RTL die Nanny einmarschiert, so findet sie fast immer einen prekären Haushalt vor. Die verschiedenen TV-Anstalten machen einander Konkurrenz und suchen im Terminkalender der Gerichte Fälle, die dann dramatisiert und aufgemotzt werden. Jugendrichterin Kirsten Erl waltet bei RTL ihres Amtes, während Richter Alexander Hold bei SAT 1 Recht spricht. Richter, Zeugen und Angeklagte sind Schauspieler, die aber über einem vorgegeben Text improvisieren dürfen, da Versprecher und Slang die erhöhen.
Ein Börsenbetrug, fahrlässige Krida oder ein Wirtschaftsverbrechen werden vor dem Fernseh-Gericht nie abgehandelt, vielmehr geht es hier um typische Fälle aus der Unterschicht. Die Drehbücher sind ähnlich gestrickt: Fast immer bricht ein atemloser Zeuge in den Gerichtssaal, um dem Verfahren eine neue Wendung zu geben. Bei dem relativen Erfolg im deutschen TV-Nachmittag bleibt zu fragen, warum solche Gericht-Shows in österreichischen Sendern fehlen.
Es ist der staatliche ORF auf der sozial-pornografische Schiene schon seit langem mit anderen Formaten unterwegs. Die Sendung „Liebesg'schichten und Heiratsachen“ rückt älteren und vereinsamten Menschen auf den Leib. Sie müssen nicht unbedingt verarmt und können sogar relativ wohlhabend sein. Es zielen die Fragen immer in die erotisch-sexuelle Sphäre.
Aussehen und Alter der Befragten konterkarieren ihre wortreichen Wünsche nach einem Partner. Das Auffinden, Hervorzerren, Befragen und Abfeiern möglichst bizarrer Typen wird in der Barbrara Karlich-Show vollzogen. Deren Ablauf ist immer gleich. Vor einem Publikum wird ein Thema angesagt. Da die Show schon seit Jahren läuft, müssen die Themen immer bizarrer werden: „Mein Glied ist viel zu klein“ oder „Ich weiss nicht, wer ich bin“ bis hin zu „Meine Urgrossmutter mag mich nicht!“ Dann treten nacheinander die Protagonisten an und nehmen in einer Sesselreihe Platz. Da wird auch die fast hundertjährige „Urli“ (Urgroßmutter) vor die Kameras geschleppt.
Es wird das Publikum und es werden Sozialberater befragt. Der Schwerpunkt liegt auf abstrusen bis bizarren Vorlieben der präsentierten Typen und ihrer politisch korrekten Einordnung. Die privat produzierte Show soll Agenturen beschäftigen, die immer auf der Jagd nach neuen Bizzaroiden sind. Bei „Prima-vera“ werden im ORF medizinische Sonderfälle vorgeführt. Ein Herr erklärt, wie die Penis-pumpe funktioniert. Ein ineinander verwachsenes Zwillingspaar beantwortet via Dolmetsch die Fragen der schnatternden Moderatorin.
Der österreichische, schwer defizitäre Privatsender ATV sucht mit seinen „Doku-soaps“ zu punkten. Es werden reale Beziehungen vorgetäuscht und in einen Wettbewerb eingebettet. Die Darsteller sind originale Menschen, die ein wenig eingewiesen und trainiert werden. Da das Drehen mit Elektronik fast nichts kostet, werden in arrangierten Szenen ungeheure Mengen an Material abgedreht, aus dem dann die Knackpunkte genommen und dramatisch zugeschnitten werden. Pro Fall werden im Durchschnitt 160 Stunden Rohmaterial aufge-nommen. Der Zuschauer wird ständig mit der Frage konfrontiert: Ist das jetzt wirklich so gewesen?
Die Abwicklung ist bei „Bauer sucht Frau“, „Tausche Familie“ und „Nadine traut sich“ immer gleich und für die TV-Tauglichkeit zeitlich begrenzt. Da sucht ein knackiger Junglandwirt eine Gattin. Da geht ein männlicher Sozialfall für eine Woche in eine etwas höher angesiedelte Familie, die wiederum ihren Vorstand nach unten entsandt hat. Ein Mädel vom Land erlebt den Wiener Gemeindebau. Ein 60jähriger tritt in eine Jungfamilie.
Auch Ausländer werden langsam in diese Sozialopern eingeschleust. Seit neuestem klopfen mehrere Verehrer bei Nadine an, die jetzt auswählen und an einem gewissen Datum geheiratet werden will. Einer macht dann das Rennen, wie auch in vielen anderen Shows künstliche Gewinner über artifizielle Verlierer triumphieren.
sfux - 3. Nov, 15:34 Article 1735x read