Wie mit den Augen eines Außerirdischen (2)

Harald Haack – Das Rezept des sicherlich berühmtesten Kriegsfotografen des vergangenen Jahrhunderts, von Robert Capa, lautete: „Wenn das Bild nicht gut ist, war der Fotograf nicht nahe genug dran“.
Der britische Schauspieler und Fotograf Koshima Aki ist zwar kein Kriegsfotograf, aber er nahm Capas Devise dennoch wörtlich. Im Grunde genommen tat er das, was auch NASA-Roboter auf dem Mars tun. Neugierig schaute er auf den Boden und versuchte seine Historie darin zu finden. Immer dann, wenn es dort etwas gab, das auf ein Ereignis schließen ließ – außer wenn es von einem Hund stammte – fotografierte er den Boden auf dem er gerade stand. Er fotografierte also aus nächster Nähe das, worüber andere Menschen achtlos hinweg gehen oder darauf herum trampeln.
Lag da nicht irgendwo auf den teuren Marmorfliesen des ehemaligen Berliner Staatsratsgebäudes ein Zettel? Wie ein Kriminalist pirschte sich Koshima Aki heran und fotografierte die Situation: Rötlich-brauner Marmor, ein weißer Fetzen Papier mit einer handschriftlichen Notiz und etwas abseits davon eine zertretende Zigarettenkippe.
Ein anderes seiner Fotos zeigt ebenso nah eine Fläche mit feinkörnigem Schotter. Auf ihr liegen willkürlich verteilt Holzspäne, wie frisch von einem Stock geschnitzt. Hatte hier ein Bergwanderer gestanden und sich einen Gehstock geschnitzt?
Immer sind es Draufsichten, die Koshima Aki faszinieren und das Gesehene, dem vergrößerten Foto einen Sinn geben, weil in den Bildern bei näherem Hinsehen eine Geschichte zu erkennen ist.
Ideen-Entwicklung und Realisation
Eines Tages wurde seine Neugier von einem Knäuel Papier geweckt. Hatte er es zerknüllt und wegwerfen wollen, den Papierkorb nicht getroffen und das Knäuel dann vom Fussboden aufgehoben und anstatt es in den Papierkorb fallen zu lassen auf dem Tisch gelegt, als das Telefon läutete? Er faltete das Knäuel auseinander. Seine Vermutung darauf eine seiner Notizen zu finden, bestätigte sich nicht. Es war völlig leer. Hatte er darauf mit Zitronensaft geschrieben, um die Notiz unsichtbar zu machen? In einem Agenten-Schmöker hatte darüber gelesen und das selbst einmal ausprobieren wollen. Er wusste nicht mehr, ob er es getan hatte. Deshalb hielt das knittrige Blatt Papier über eine Kerzenflamme und hoffte auf das kleine Wunder. Doch außer Ruß von der Kerzenflamme fand er nichts auf dem Papier. Also nur ein leeres Blatt?
Am folgenden Tag legte er es in den Scanner und mit Hilfe einer Fotosoftware invertierte er das Bild. Damit wurde das weiße Papier schwarz und wirkte wie schwarz beschichtete Aluminiumfolie – wie „Black Crepp“, das von Werbefilmern gerne verwendet wird, um zuviel Licht präzise zu reduzieren. In dieser Negativ-Darstellung sahen die Knitterstellen geheimnisvoll aus, inspirierten ihn zu mystischen Bildern. Aber warum sollte er immer nur das fotografieren, was er am Boden fand? Nun gut, dieses Papier hatte er als Knäuel vom Fussboden aufgelesen, doch es blieb – trotz der eigenartigen Wirkung – nach dem Scannen und der Invertierung nur eine Textur. Da fehlte also noch etwas.
Jener Tag in Edinburgh war schaurig. Stundenlang hatte es gestürmt und nun am Abend, an dem er ausnahmsweise nicht auf der kleinen Bühne des Young theatre of Edinburgh stehen musste, um seine Rolle zu spielen, prasselten Hagelkörner gegen die Fensterscheiben seiner Dachwohnung in der Spylaw Bank Road im Stadtteil Colinton. Nachdem er ans Fenster herangetreten war, um dem Hagelschauer zuzusehen, sah er im wirren Muster der eisigen Tropfenläufer auf der Fensterscheibe sein Gesicht. Da es draußen schon ziemlich dunkel war und er die Zimmerbeleuchtung eingeschaltet hatte, funktionierte die Scheibe wie ein Spiegel. Aber die Textur des Wassers draußen auf dem Glas verfremdete diese Spiegelung. Sein Gesicht kam ihm vor wie das eines Fremden oder wie eine dämonenhafte Maske. Und das war’s, was dem gescannten Papier fehlte!

„Feedback – Blick ins Ungewisse“
© 2005 Fotografik: Koshima Aki

„Relatives – Deine Ahnen blicken auf Dich“
© 2005 Fotografik: Koshima Aki

„Travesty – Julas Zahnschmerz“
© 2005 Fotografik: Koshima Aki

„Stalker – Ausweichen unmöglich“
© 2005 Fotografik: Koshima Aki

„Demon – Selbstbildnis, Hommage an Van Gogh“
© 2005 Fotografik: Koshima Aki
Sind Ideen erst einmal geboren und steht den Realisationen nichts mehr entgegen, fehlt nur noch die Tat. Koshima Aki hatte seine Theater-Kollegen oft fotografiert. Unter den zahlreichen Fotos gab es viele Bilder mit Grimassen. Die isolierte und vergrößerte er und kombinierte sie als „Sandwich“ mit dem gescannten und invertierten Papier. Die Bildwirkung empfand er als phänomenal. Begeistert zerknüllte er bald einen ganzen Stapel Schreibpapier, faltete die Blätter sorgsam wieder auseinander und scannte sie. Nur die besten Knitterformen, jene, die mit den Gesichtern korrespondierten und zu einer Einheit verschmolzen, verwendete er.
Bald hatte er die Bilder für eine Ausstellung zusammen und gab sie zum Printen. Die auf Leinwandgewebe großformatig gedruckten Bilder, denen er den Titel „Crease“ (Falte) gab, wurden 2005 zeitgleich im Internet unter


sfux - 4. Dez, 08:02 Article 1023x read