Klassenbewusst auf Schiene
Malte Olschewski - Ängstlich zelebrieren Gewinner der Oberschichte Produkte und Rituale, um sich vom Rest der Gesellschaft und der wachsenden Unterschichte abzusetzen. Bahn frei für neue Chiffren, Zeichen und Verhaltensweisen, um die Identifikation schnell und eindeutig zu ermöglichen. Unzählige Geschäftemacher bedienen bei gehobenen Preisen ihre Klienten bei ihrer vielfältigen Distanzarbeit. Soziale Unterschiede hat es in krasser oder gedämpfter Form immer schon gegeben. Durch ein organisiertes Proletariat konnten einige wenige, soziale Verbesserungen erzwungen werden. Im modernen Raubtierkapitalismus werden diese Errungenschaften langsam wieder abgebaut, während sich die Gewinner des Systems mit frechen Gesten in den Vordergrund drängen.
Diejenigen, die das Präkariat als neues, nicht mehr organisiertes Proletariat abgehängt haben, wollen ihren Sieg in rauschenden Festen und provokativen Ritualen feiern. Was ist schon ein Sieg, wenn man sich im Circus Maximus der Warenwelt nicht an der Niederlage delektieren kann. Der soziale Unterschied bricht sich heute vielfach über Produktchiffren neue Bahn. Im Fernsehen wird das durch eigene Berichte über die Feste einer mitleidlosen Bussi Gesellschaft besonders deutlich. Hierbei werden teure Speisen verschlungen und edle Tropfen geniesserisch im Gaumen gerollt. Wie in düsteren, sozialen Zeiten gewinnt die Nahrungsaufnahme eine gesellschaftliche Distinktion. Die neuen Klassen werden auch in vielen anderen Bereichen, und sogar bei einer simplen Bahnfahrt, sichtbar.
Was lässt sich die gute, alte Eisenbahn etwa in Österreich nicht alles einfallen, um die Oberschichte ihre Distanz zum abgehängten Präkariat zelebrieren zu lassen! Glaubte man früher, auf Schienen möglichst billig von da nach dort zu gelangen, so wird heute die Bahnfahrt immer mehr zu einer kostspieligen Demonstration der Einkommensverhältnisse. Auf immer mehr Strecken werden wie einst zur Kaiserzeit Züge mit drei Klassen geführt. Billig ist die Bahn mit ihren schichtenspezifischen Ritualen schon lange nicht mehr. Das beginnt schon mit den so genannten Lounges (französisch für: Aufenthaltsraum) in den grossen Bahnhöfen. In den Wartezeiten verstecken sich neue Profite. Das Warten auf Ankunft oder Abfahrt an den Bahnsteigen oder in der Halle soll gegen Bezahlung der Vergangenheit angehören. Gegen kräftiges Aufgeld darf man in luxuriös eingerichteten Lounges warten.
Da nun der Manager offenbar 24 Stunden am Tag managen muss, werden in vielen Zügen Business-Abteile angeboten. Hierbei haben die fußfreien Sitzgarnituren Lederbezug, während der Tisch aus Edelbirnenholz gemacht ist. Hinzu kommen eine Steckdose für den PC, ein Internetanschluss und optimaler Mobilfunkempfang. Sitz und Tisch sind ergonometrisch gehalten, wobei ein „hochgesetztes Abstellbereich für die Aktentasche“ nicht vergessen wird. Es gilt ein erweitertes Menüangebot, wobei Speisen und Getränke vom Personal an den Sitz gebracht werden. Zeitungen liegen bereit. In einem Safe kann man die Geschäftspapiere sicher verwahren. Da der Manager andauernd mit anderen Managern konferieren muss, steht auch ein Konferenzwaggon zur Verfügung.
Aber auch in anderen Bereichen wird vorgesorgt. Die Tickets können online bestellt werden. Man kann aus der Speisekarte ein Menü im voraus wählen. Anstatt im allgemein zugänglichen Speisewagen zu dinieren, lässt sich der auf Distanz bedachte Manager Spei-sen und Getränke an den Sitzplatz bringen. Allein reisenden Damen steht für den Fall, dass sie sich fürchten, ein eigenes Damenabteil zu Verfügung, das allerdings drei Monate im voraus zu reservieren ist. Auch für den Wauwau ist vorgesorgt. Haustiere fahren in der 1. und 2. Klasse in einem eigenen Behälter zum Nulltarif, während in der 3. Klasse für Fifi oder Schnurrli eine Fahrkarte zu lösen ist. Für die lieben Kleinen gibt es bei entsprechenden Aufpreisen ein Kinderspielabteil. Für stillende Mütter hat die Bahn ein „Stillabteil mit Vorhängen zum nötigen Sichtschutz“ eingerichtet.
Die Bahn bleibt teuer und fährt mit hoher Geschwindigkeit in einen grundlegenden Widerspruch. Wie soll die Entlastung des Individualverkehrs gelingen, wenn die Alternative Bahn so teuer ist? Der Staat steckt Milliarden in den Strassenbau, dessen Wirkung sofort wieder von einer angestiegenen Zahl von Pkws egalisiert wird. Die Bahn prahlt liebend gern mit ihren Vergünstigungen und Spartarifen. In Wirklichkeit sind die Rabatte von einem dichten Regelwerk eingehüllt. Ein Dschungel von Bedingungen umgibt die billige Fahrkarte. Der umfangreiche Vertrag zum Erwerb einer günstigen Bahn Card kann wohl nur von einem Manager im Business-Abteil mit Ledersessel und Tisch aus Edelbirnenholz dechiffriert werden. Gegen Aufpreise und Zuschläge kümmert sich die Bahn um alle, nur nicht für den Mann mit knapper Kasse, der die horrend gestiegenen Normaltarife mit 85 Euro etwa für die Strecke von Köln nach Berlin kaum mehr bezahlen kann.
sfux - 13. Nov, 08:01 Article 2074x read
Wie viele Billig-Tickets gibt es eigentlich?
Dieses Regelwerk und die Bedingungen bräuchte es gar nicht, denn offensichtlich ist das Kontingent so gering, dass man sie sowieso kaum bekommt. Ein persönliches, nicht respräsentatives Beispiel: Im vergangenen Jahr habe ich bei zwei Versuchen zwei Billigflüge bekommen. Bei über zehn Suchen nach Billig-Bahntickets war nie eines verfügbar.
Kennt jemand das Kontingent. Das wäre interessant zu erfahren und zu diskutieren unter: reinfahrt.twoday.net.