Ein strahlender Mord
Malte Olschewski - Es war ein strahlender Mord mit gekonnter PR-Begleitung. Nach dem Tod des ehemaligen russischen Geheimdienstmannes Alexander Litwinenko durch eine Dosis radioaktiven Poloniums am 23.11. sucht Scotland Yard in London falsche und echte Spuren in Richtung eines Motives zu ordnen. An zwölf Lokalen und Personen sind bisher Spuren von Polonium festgestellt worden, was einen einzigartigen Kriminalfall ergibt. Scotland Yard hat den russischen Präsidenten Wladimir Putin als Auftragsgeber ausgeschlossen.
Beresowski soll der Täter sein?
Der russische Experte für organisierte Kriminalität, Igor Barimow, hat aus der Ferne den Fall gelöst und den Täter benannt. Es soll der nach London geflüchtete, jüdisch-russische Milliardär Boris Beresowski sein. Das Motiv: Rache an Putin durch einen Mord mit konstruierten Verdachtsmomenten gegen den Kreml.
Zur Lösung des Rätsels müssen verschiedene Umstände und Lebensläufe genauer unter die Lupe genommen werden. Das Opfer Alexander Litwinenko hatte bis 1999 für den russischen Geheimdienst FSB gearbeitet. Dann wurde Litwinenko verhaftet, angeklagt, freigesprochen neuerlich verhaftet und wieder freigesprochen. Vor einem dritten Verfahren ist er nach London geflüchtet. Dort hat er sich der Exilantengruppe um Boris Beresowski angeschlossen. Beresowski hatte in der Phase des Kasinokapitalismus unter Jelzin Millionen gemacht.
Er verlangte politische Mitsprache, die ihm von Putin als Nachfolger Jelzins verweigert wurde. Putin ging schon als Chef des Geheimdienstes FSB und erst recht als Staatspräsident gegen die neuen Milliardäre vor, sodass sich Beresowski bald zur Flucht ins Ausland gezwungen sah. Er hat in London die „Foundation for Civil Liberties“ gegründet und andere Emigranten um sich geschart. Er hat in mehreren Interviews einen Kampf oder gar Krieg gegen Putin angekündigt. Wer wie Litwinenko etwas gegen Putin vorbringen konnte, wurde von Beresowski unterstützt.
In einer ersten Pressekonferenz erklärte Litwinenko, von Abgesandten Putins den Auftrag zur Ermordung Beresowskis erhalten zu haben. Im Londoner Exil schrieb er ein Buch. Er hielt Vorträge und gab Interviews, um Putin die Bombenanschläge in russischen Städten von 1999 anzuhängen. Des weiteren soll der FSB den Al Kaida-Terroristen Al-Zawahiri in Dagestan ausgebildet haben.
War wirklich der Moskauer Geheimdienst hinter dem Anschlag auf das Ostwest Theater?
Der Moskauer Geheimdienst sei hinter dem Anschlag auf das „Ostwest-Theater“ in Moskau gestanden. Auch das Attentat auf das armenische Parlament, auf die Türme von New York und auf die Londoner U-Bahn seien ein Werk Putins. Dieser sei ein Pädophiler und auch in den Streit um die Mohammed-Karikaturen verwickelt. Angesichts solcher Anschul-digungen erlahmte bald das Medieninteresse an der Person Litwinenkos. Er hatte sich selbst aus dem Spiel genommen.
Ein gesteigertes Interesse Moskaus an seiner Ausschaltung war nicht mehr gegeben. Er bemühte sich aber weiterhin, denn er wollte die von Beresowksi gezahlte Gelder nicht verlieren, die ihm und seiner Frau ein schönes Leben garantierten. Die Ermordung der Journalistin Anna Politowskaya durch unbekannte Täter schien ihm neuen Auftrieb zu geben. Er tat nun so, als habe er Material, das den FSB als Auf-tragsgeber entlarven könnte. Ausserdem liess er mehrmals durchblicken, er wisse alles über die Zerschlagung des Yukos-Ölkonzern.
Am 25.10. flog eine Gruppe russischer Fussballsfans aus Moskau nach London, um am 1.11. das Spiel des ZSKA Moskau gegen den Londoner FC Arsenal zu sehen. Unter den Fans befanden sich mehrere Personen, die eine unbekannte Manege des extrem giftigen, radioaktiven Elementes Polonium im Gepäck hatten. Diese Substanz war von der Chemikerin Marie Curie entdeckt und zur Ehren ihres Heimatlands Polen benannt worden.
Das Polonium kann nur in Atomreaktoren hergestellt werden. Die Produktion von Polonium in Russland ist streng überwacht, jedoch sind bei den Wirren im Zusammenbruch des Kommunismus rund zehn Kilogramm dieser Substanz in unbekannten Kanälen verschwunden. Da aber das Polonium eine Zerfallszeit von 138 Tagen hat, muss den Tätern erst kürzlich produziertes Material zur Verfügung gestanden haben.
Diese Täter könnten nach Auftrag aus Russland oder aus dem Ausland eine bestimmte Menge des Poloniums in einer Maschine der British Airways nach London gebracht haben. Dabei dürfte die Substanz unsachgemäss aufbewahrt beziehungsweise transportiert worden sein. Der Behälter oder die Kapsel, in der sich das Polonium befunden hatte, war nicht dicht genug. Oder das Polonium ist mehrmals umgepackt worden, wobei kleine Spuren im Umfeld haften geblieben sind. Sowohl in zwei Maschinen der British Airways sowie an insgesamt zwölf Lokalitäten in London sind später Strahlenspuren festgestellt worden.
Der Polonium - Pfad durch London
Am 1.11. dürfte Litwinenko am Vormittag wie fast täglich das Büro Beresowskis in der Down-Street betreten haben. Am frühen Nachmittag trifft er in dem Sushi-Restaurant „Itsu“ den italienischen „Sicherheitsberater“ Mario Scaramella. Der zeigt ihm Material, das die russische Regierung im Mordfall Politowskaya belastet. Um 16 Uhr 30 kommt es im Millennium-Hotel zu einem Treffen Litwinenkos mit seinem ehemaligen FSB-Kollegen Alexej Lugowoj, der von Dimitri Kowlun und Wjatscheslaw Sokolenko begleitet wird. Es folgt eine Visite in der Sicherheitsfirma „Eryns“.
Gegen 20 Uhr fährt ihn der tschetschenische Emigrant Ahmed Zakajew, der ebenfalls für Beresowski arbeitet, in seinem Auto nach Hause. Scotland Yard verweigert jede Auskunft, was Litwinenko wo und mit wem an diesem Tag gegessen und getrunken hat. Bei allen Begegnungen könnte ihm das Polonium in einem günstigen Augenblick in Speisen oder Getränke gemischt worden sein. Bei blossem Körperkontakt dringt die Substanz nicht durch die Haut, haftet aber an Gegenständen, die berührt werden. Um die tödliche Wirkung zu entfalten, muss das Polonium eingenommen werden. Es kann auch über eine Wunde oder mit einem Nadelstich in den Blutkreislauf gelangen.
Mario Scaramella lebt und arbeitet im gleichen Milieu wie Litwinenko. Er bewegt sich als „Sicherheitsberater“ zwischen Medien, Geheimdiensten und Waffenhändlern. Er hat als Berater einer von Berlusconi eingesetzten Kommission über den KGB in Italien Material über Ministerpräsident Romano Prodi und seine angebliche Verbindung zu russischen Geheimdiensten gesammelt. Nach dem Treffen mit Litwinenko fliegt Scaramella mit einer Billig-Airline nach Rom, um drei Wochen später wieder nach London zu kommen. Dort wird in einem Krankenhaus eine Verstrahlung durch Polonium festgestellt, die aber vorerst nicht lebensbedrohend ist.
Alexej Logowoj war für den FSB als Leibwächter des früheren Regierungschefs Jegor Gaidar tätig. 1997 übernahm er den Sicherheitsdienst im staatlichen TV-Sender ORT, der damals von Beresowski kontrolliert wurde. Er wurde aus dem FSB entlassen, weil er im Verdacht stand, im Aeroflot-Skandal dem Vizechef der Luftlinie, Nikolai Gluschkow, die Flucht ins Ausland ermöglicht zu haben. Auch Beresowski war damals in den Betrugskandal verwickelt.
Lugowoj war danach als Geschäftsmann tätig, könnte aber weiterhin für den FSB, aber auch für Beresowski gearbeitet haben. Auch in der Maschine der Bristish Airways, mit der er am 2.11. zurück nach Moskau fliegt, sind Spuren von Polonium festgestellt worden. Somit kann Lugowoj als Hauptverdächtiger für den Transport der Substanz gelten. Er könnte allerdings das Polonium in London einer anderen Person für einen weiteren Einsatz übergeben haben. Diese Person könnte sich am Vormittag mit Litwinenko getroffen und ihn vergiftet haben, worauf das Opfer Spuren der Substanz durch London getragen hat. Der Knackpunkt des Falles ist das Ausstreuen des Poloniums. Die Substanz wurde an folgenden Örtlichkeiten festgestellt: In zwei Maschinen der British Airways, im Restaurant Itsu, im Körper Scaramellas, im Hotel Millennium, im Büro Beresowskis, im Auto Zakajews, sowie in der Wohnung und im Körper Litwinenkos.
PR-Begleitung in den Tod
Tatsache ist, dass Litwinenko nach seiner Erkrankung am 2.11. sofort von der PR-Firma „Chime Communications“ betreut wurde. Deren Chef ist wiederum ein Vertrauter Beresowskis. „Chime Communications“ sorgte für das weltweit verbreitete Foto des sterbenden Geheimdienstmannes. Des weiteres gab Litwinenko, als es unweigerlich zu Ende ging, eine Erklärung ab, in der er in pathetischen Worten Putin der Tat bezichtigte. Die PR-Firma besorgte die öffentlichen Auftritte des Vorsitzenden der Beresowki-Stiftung, Alexander Goldfarb, der die Tat ebenfalls Putin anlastete.
„Chime Communications“ sorgte für das weltweit verbreitete Foto des sterbenden Geheimdienstmannes.
Der Vater Litwinenkos, Walter, tat das gleiche. Der ebenfalls von Beresowksi ausgehaltene Tschetschene Ahmed Zakayew bereicherte den Fall mit der Nachricht, dass der russische FSB die Wirksamkeit des Poloniums an tschetschenischen Gefangenen erprobt hätte. Beresowksi hatte auch den den anerkannten Toxikologen John Henry als Berater bei der Feststellung der verabreichten Substanz beiziehen lassen. Doch hat sich Henry sofort wieder aus der Untersuchung zurückgezogen.
Mögliche Motive:
Litwinienko hatte sich durch seine fantastischen Verdächtigungen selbst aus dem Spiel genommen. Die Behauptungen des Kreml, er könne als „kleiner Fisch“ durch weitere Enthüllungen Putin und der russischen Regierung nicht schaden, haben einiges für sich. Doch gibt es unterhalb der Regierungsebene etwa im Geheimdienst Gruppen oder Personen, die mit Litwinenko alte Rechnungen zu begleichen haben. Dass sie Zugang zu frisch produziertem Polonium haben, ist eher unwahrscheinlich.
Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass sie eine derartig komplizierte und gefährliche Verschwörung aufziehen, wo doch zur Ausschaltung Litwinenkos ein Schuss aus dem Hinterhalt genügt hätte. Auffällig ist auch, dass in Russland auffallend oft Regime-Kritiker durch Mord aus dem Weg geräumt worden sind. Hierbei ist mehrmals Gift eingesetzt worden. Nur in wenigen Fällen sind die Täter gefasst worden, doch sind deren Auftragsgeber unbekannt geblieben.
Viel wahrscheinlicher ist die Vermutung, dass der radioaktive Anschlag eigentlich Beresowksi gegolten hat und von Litwinenko irgendwie abgefangen worden ist. Beresowksi und Putin sind Todfeinde. Beresowksi hatte in der Ukraine den westlich orientierten Präsidentschaftskandidaten Viktor Juschtschenko unterstützt. Juschtschenko hatte seinerseits einen Giftanschlag nur knapp überlebt.
Nach dem Wahlsieg Juschtschenkos hat Beresowksi angekündigt, er würde mit anderen, von Putin ins Ausland getriebenen Oligarchen die Kräfte „bündeln“ und bald von der Ukraine aus gegen Moskau operieren. Bei den unermesslichen Finanzmitteln, die Beresowki und andere Oligarchen aufbringen können, muss der Kreml diese Drohung ernst nehmen. Die Geldmittel könnten es diesem Personenkreis auch ermöglicht haben, frisches Polonium von unterbezahlten, russischen Atomforschern anzukaufen und nach London zu bringen.
Regierungskreise in Moskau haben in der Zeitung „Kommersant“ und in TV-Sendungen die Vermutung geäussert, Beresowski könnte seinen nutzlos gewordenen Vertrauten Litwinenko geopfert haben, um den Verdacht in Richtung des Kreml zu lenken. Der lange, qualvolle Tod, die PR-Begleitung und das Medienecho würden Putin politisch schaden. Es können aber auch von Beresowksi unabhängige Kreise in Russland den Anschlag geplant haben. Die Annahme wird durch einen neuen Giftanschlag erhärtet: Der frühere Regierungschef Jegor Gaidar ist Tage nach dem Tod Litwinenkos bei einer Tagung in Dublin bewusstlos zusammengebrochen. Er wurde sofort nach Moskau geflogen und dort in ein Krankenhaus eingeliefert. Gaidar war jener Mann, der im Auftrag des damaligen Präsidenten Jelzin die Sowjetwirtschaft privatisiert und damit die unermessliche Bereicherung von wenigen hundert Personen ermöglicht hat. Diesen Oligarchen hatten sich später Putin und seine Truppe vom Geheimdienst FSB in den Weg gestellt.
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sfux - 5. Dez, 08:04 Article 4492x read