Kein Dayton für den Irak !
Der Bericht der US-Studiengruppe hält am Zentralstaat fest
Malte Olschewski - Die jüngste Weltmacht will am ältesten Schauplatz der Geschichte die unheilvollen Zeichen an der Wand, das Menetekel, nicht erkennen. Eine vom US-Kongress eingesetzte Studiengruppe unter Ex-Aussenminister James Baker hat nun das Land bereist und mit all ihren 79 Empfehlungen den Kern des Problems verfehlt: Eine verhandelte Dreiteilung des Landes im Rahmen einer möglichen Föderation. Die „Iraq Study Group“ empfiehlt einen stufenweisen Abzug der US-Armee bei einer gleichzeitigen „Irakisierung“ des Krieges, was unabsehbare Folgen bis hin zu Interventionen der Nachbarstaaten haben könnte.
Die bisherige Politik, so die Kommission, sei falsch gewesen. Der Krieg sei nicht zu gewinnen. Im Tag kommen derzeit im Irak 3000 Menschen ums Leben. Mit Stichtag 11.12.2006 sind bisher 3179 Soldaten der Koalitionstruppen, davon 2932 Amerikaner, getötet worden. Die USA hatten rund 22 000 Verwundete. Nach einer Zählung der John Hopkins Universität sind 600 000 irakische Zivilisten ums Leben gekommen. Die Kosten des Krieges werden auf 350 Milliarden Dollar geschätzt.
Die „ Study Group“ kam zu Erkenntissen, die schon vorher und von anderen Stellen vorgebracht worden waren. Eine Leerformel besagt etwa, dass die Dynamik der Region für den Irak ebenso wichtig sei wie die Ereignisse innerhalb des Irak. „The dynamics of the region are as important to Iraq as events within Iraq,“ lautet diese Erkenntnis auf Englisch. Diese Dynamik ist offenbar auch der Grund, dass viele Iraker die Identität religiöser Sekten annehmen (embracing sectarian identities), geradeso, als wären sie vorher keine Moslems, keine Sunniten oder Schiiten gewesen.
Entsetzte Regierung in Bagdad
Die Kommission hält mit seltener Verbohrtheit an einem Einheitsstaat und einer Zentralregierung fest, während der Irak bereits in Kurdistan, in ein Sunnitengebiet und in ein Schiitistan zu zerfallen beginnt. Es hat auch niemand den Baker-Report begrüsst oder unterstützt. Die Regierung in Bagdad ist entsetzt. Kurden und Sunniten lehnen die Vorschläge ab. Isräl übt Kritik. Die Saudis drohen mit Einmarsch. Auch US-Präsident Bush will den Bericht nicht als Grundlage für einen Kurswechsel nutzen. Erst Anfang 2007 will er einige Änderungen der bisherigen Politik bekannt geben. Ein Abzug ohne eine Befriedung des Irak würde in den Augen der Regierung Bush vor allem von ihrem Todfeind Al Kaida als „Sieg und Triumph“ gefeiert werden. Und das dürfe auf keinen Fall geschehen.
Ein baldiger Abzug der rund 150 000 US-Soldaten scheint auch aus weltpolitischen Gründen notwendig zu sein. Die Weltmacht USA wird durch den Iralk zunehmend gelähmt. Baker formulierte es diplomatisch: „Our own ability to respond to other international crisis is restrained.“ Das heisst: Die am Tigris gebundenen Kräfte würden die Möglichkeiten der USA einschränken, woanders zu intervenieren. Oder in Kurzform: Raus aus dem Irak, damit man woanders wieder besser rein kann!
Bei den derzeitigen Kämpfen und Attentaten geht es nicht nur gegen die US-Besatzer, sondern hauptsächlich um die künftigen Grenzen zwischen den Siedlungsgebieten der Kurden, Sunniten und Schiiten. Dort, wo diese Grenzen mehr oder minder feststehen und die Herrschaft gesichert ist, bleibt es relativ ruhig. Das heisst: Im schiitischen Basra ist die Lage fast so stabil wie in der kurdischen Hauptstadt Erbil. Nur dort, wo die Grenzen nicht klar sind und wo Sunniten mit Schiiten auf engem Raum zusammenleben, fliegen die Körperteile der Selbstmordattentäter und ihrer Opfer durch die Luft.
Militär - Geheimdienst hat Kontrolle verloren
Inzwischen hat auch der amerikanische Militärgeheimdienst die Übersicht verloren. Im Irak sollen derzeit über dreissig Privatarmeen, Schutztruppen, Kampfgruppen, Terrororganistionen und Banden aktiv sein. Die Siedlungsgebiete der Sunniten und Schiiten sind ineinander verzahnt und nicht klar getrennt. Der sunnitische Diktator Saddam Hussein hatte mit eiserner Hand alle Spannungen zwischen den grossen Glaubensgruppen unterdrückt. Die Sunniten mit rund 20 Prozent der Bevölkerung haben davon profitiert. Die Kurden mit rund 30 Prozent und die Schiiten mit rund 50 Prozent der Bevölkerung sind von von Saddam oft blutig verfolgt und unterdrückt worden.
Im Irak geschieht derzeit eine „religiöse Säuberung.“ In schiitischen Regionen liegen sunnitische Enklaven wie umgekehrt viele Schiiten in sunnitischen Gebieten siedeln. Vor allem in Bagdad ist die Teilung der Stadt in einen schiitischen Osten und einen sunnitischen Westen weit fortgeschritten. Grob gesprochen bildet der Tigris die Grenze, dessen Ufer vom Regierungsviertel der „Grünen Zone“ und von Positionen der amerikanischen und irakischen Armee gesäumt werden. Während Adhamija der einzige Sunnitenbezirk östlich des Tigris bleibt, sind die sunnitischen Bezirke im Westen wie Ghasalija, Ameriya, Jihad oder Daura von schiitischen Enklaven und gemischten Distrikten durchsetzt. Beide Parteien suchen über den Terror der jeweiligen Milizen ihre Gebiete Strasse für Strasse und Haus für Haus zu erweitern. Nicht sichtbare Frontlinien durchlaufen die Stadt, die sich täglich zum Nachteil der Sunniten verändern.
Auslöschung der Sunniten?
Madinat Al Sadr oder Sadr-City trägt den Namen einer alten schiitischen Familie, deren jüngster Sprössling Muktada Al Sadr eine Miliz von 60 000 Mann kommandiert. Die Regierung hat hier nichts zu sagen. Von hier aus werden Aktionen gegen sunnitische Stadtteile gestartet. Ohne Mitwirkung der Regierung oder der Amerikaner ist eine Umschichtung der Bevölkerung bereits in vollem Gange. Seit dem Sturz Saddam haben etwa zwei Millionen Menschen ihre bisherigen Wohnorte verlassen. Kurdistan muss sich gegen einen Ansturm sunnitischer Flüchtlingen aus dem Süden wehren. Wer es sich leisten konnte, ist nach Jordanien, Syrien oder nach Saudi-Arabien geflüchtet. Saudi-Arabien hat bereits angekündigt, bei einem Abzug der US-Truppen militärisch zu intervenieren, um eine Auslöschung der Sunniten zu verhindern. Ein Eingreifen der Saudis aber könnte eine Invasion des Irans und einen allgemeinen Nahostkrieg auslösen.
Die Baker-Kommission spricht sich in 79 Empfehlungen für eine „Irakisierung“ des Krieges und eine Stärkung der in sich gespalteten Zentralregierung aus. Nach und nach könnten dann ab 2008 amerikanische Truppen abgezogen werden, während „embedded troops“ (eingebettete Truppen) zur Ausbildung der irakischen Armee zurückbleiben. Der Regierung in Bagdad werden „milestones“ vorgegeben. Das sind Zeitlimitis, bis zu denen sie diesen oder jenen Schritt in Richtung „National reconciliation“ zu vollziehen hat. Es wird weiters festgestellt, dass die neü irakische Armee mit insgesamt 300 000 Mann kaum brauchbar ist. Ausserdem ist sie von der Mahdi-Armee Al Sadrs unterwandert.
Al Sadr würde ausserdem die Ministerien für Gesundheit, Landwirtschaft und Transport kontrollieren. Schon mehrmals sind Verbände der neuen Regierungsarmee in Krisengebiet entsandt worden. Und jedesmal mussten ihnen US-Truppen zu Hilfe eilen. Daher scheint die bereits 2003 erzwungene Auflösung der Saddam-Armee der erste schwere Fehler der amerikanischen Besatzungspolitik gewesen zu sein. Man hätte die auf Saddam eingeschworenen Offiziere entlassen, die Truppen selbst jedoch beibehalten können. Es ist kein Geheimnis, dass sich ehemalige Offiziere und Soldaten dem sunnitischen Widerstand und anderen Privatarmeen angeschlossen haben.
Die Verwaltung funktioniere nicht. Immer wieder würden sunnitischen Stadtteilen die Elektrizität abgedreht werden. Es würden Strommasten gesprengt und anrückende Reparaturteams unter Beschuss genommen werden. In Bagdad etabliere sich eine schiitische Dilktatur, die von Ministerpräsident Al Maliki entweder geduldet oder heimlich gefördert werde. Die amerikanischen Truppen seien hilflos.
Durch das Rotationsprinzip der Armee könnten die Einheiten nicht lange genug im Irak bleiben, um Beziehungen zur Bevölkerung zu entwickeln und um Vertrauen zu gewinnen. Unter den rund tausend Angestellten der amerikanischen Botschaft würden sich nur sechs Personen befinden, die arabisch sprechen könnten. Enorme Mengen an Ausrüstung würden der Armee jeden Tag gestohlen werden. Empfehlung Nr. 23 bestätigt einen alten Verdacht, wonach sich die USA Unmengen irakischen Öls aneignen: „The president should restate that the USA do not seek to control Iraqs oil.“ (Der Präsident sollte versichern, dass die USA keine Kontrolle des irakischen Öls anstreben).
Neue diplomatische Offensive
Als ehemaliger Aussenminister favorisiert Baker naturgemäss eine NDO (New Diplomatic Offensive“ Neue Diplomatische Offensive). Eine „Iraqi Support Group“ wäre eine Verhandlungsrunde, an der neben den USA und dem Irak auch Syrien und der Iran teilnehmen sollen. Der Iran soll davon überzeugt werden, dass ein Zerfall des Iraks Unruhen in seinen Territorium auslösen würde. Der Iran hat in Wirklichkeit solche Unruhen nicht zu befürchten, sondern kann bei einem Zerfall des Iraks nur gewinnen.
Die zweitstärkste, schiitische Fraktion ist als „Oberste Rat der islamischen Revolution im Irak“ (SCIRI) seit jeher ein Instrument Teherans. Ausserdem sei laut Studiengruppe eine Lösung im Irak unmöglich, wenn nicht auch das Palästinenserproblem geregelt werde. Es ist auch die Rede davon, dass Israel die Golanhöhen an Syrien zurückgeben könnte. Den amerikanischen Medien wird hinsichtlich der Kriegsfolgen im Irak „significant underreporting“ unterstellt.
Der Irak-Bericht scheint eine misslungene Pflichtübung zu sein, da das zentrale Problem nicht angesprochen und auch die Frage nach der Schuld nicht gestellt wurde. Um ein Problem zu lösen, muss zunächst dargestellt werden, wie es dazu gekommen ist. Die schwache und zerrissene Regierung in Bagdad soll nun die Folgen einer gescheiterten Grossmachtpolitik übernehmen. Die von Baker vorgeschlagene „Irakisierung“ erinnert in vielen Details an die „Vietnamisierung“ des Krieges, die 1975 zu einer Katastrophe für die USA geführt hat.
Der Bericht will nicht wahr haben, dass die einzige Lösung ähnlich wie in Bosnien in der Teilung des Landes und in der Abgrenzung der Siedlungsgebiete besteht. Massenhafte Umsiedlungsaktionen werden notwendig sein, um die Gebiete der Schiiten und Sunniten abzugrenzen und die Enklaven zu verschieben. Auch die Bildung einer Föderation mit begrenzten Befugnissen könnte ins Auge gefasst werden. Warum im Irak mit allen Kräften vermieden wird, was in Bosnien 1995 mit den Verhandlungen von Dayton nachweisbar den Krieg beendet hat, ist ein Rätsel, mit dem sich der neu gewählte amerikanische Kongress bei kommenden Debatten befassen wird.
Malte Olschewski - Die jüngste Weltmacht will am ältesten Schauplatz der Geschichte die unheilvollen Zeichen an der Wand, das Menetekel, nicht erkennen. Eine vom US-Kongress eingesetzte Studiengruppe unter Ex-Aussenminister James Baker hat nun das Land bereist und mit all ihren 79 Empfehlungen den Kern des Problems verfehlt: Eine verhandelte Dreiteilung des Landes im Rahmen einer möglichen Föderation. Die „Iraq Study Group“ empfiehlt einen stufenweisen Abzug der US-Armee bei einer gleichzeitigen „Irakisierung“ des Krieges, was unabsehbare Folgen bis hin zu Interventionen der Nachbarstaaten haben könnte.
Die bisherige Politik, so die Kommission, sei falsch gewesen. Der Krieg sei nicht zu gewinnen. Im Tag kommen derzeit im Irak 3000 Menschen ums Leben. Mit Stichtag 11.12.2006 sind bisher 3179 Soldaten der Koalitionstruppen, davon 2932 Amerikaner, getötet worden. Die USA hatten rund 22 000 Verwundete. Nach einer Zählung der John Hopkins Universität sind 600 000 irakische Zivilisten ums Leben gekommen. Die Kosten des Krieges werden auf 350 Milliarden Dollar geschätzt.
Die „ Study Group“ kam zu Erkenntissen, die schon vorher und von anderen Stellen vorgebracht worden waren. Eine Leerformel besagt etwa, dass die Dynamik der Region für den Irak ebenso wichtig sei wie die Ereignisse innerhalb des Irak. „The dynamics of the region are as important to Iraq as events within Iraq,“ lautet diese Erkenntnis auf Englisch. Diese Dynamik ist offenbar auch der Grund, dass viele Iraker die Identität religiöser Sekten annehmen (embracing sectarian identities), geradeso, als wären sie vorher keine Moslems, keine Sunniten oder Schiiten gewesen.
Entsetzte Regierung in Bagdad
Die Kommission hält mit seltener Verbohrtheit an einem Einheitsstaat und einer Zentralregierung fest, während der Irak bereits in Kurdistan, in ein Sunnitengebiet und in ein Schiitistan zu zerfallen beginnt. Es hat auch niemand den Baker-Report begrüsst oder unterstützt. Die Regierung in Bagdad ist entsetzt. Kurden und Sunniten lehnen die Vorschläge ab. Isräl übt Kritik. Die Saudis drohen mit Einmarsch. Auch US-Präsident Bush will den Bericht nicht als Grundlage für einen Kurswechsel nutzen. Erst Anfang 2007 will er einige Änderungen der bisherigen Politik bekannt geben. Ein Abzug ohne eine Befriedung des Irak würde in den Augen der Regierung Bush vor allem von ihrem Todfeind Al Kaida als „Sieg und Triumph“ gefeiert werden. Und das dürfe auf keinen Fall geschehen.
Ein baldiger Abzug der rund 150 000 US-Soldaten scheint auch aus weltpolitischen Gründen notwendig zu sein. Die Weltmacht USA wird durch den Iralk zunehmend gelähmt. Baker formulierte es diplomatisch: „Our own ability to respond to other international crisis is restrained.“ Das heisst: Die am Tigris gebundenen Kräfte würden die Möglichkeiten der USA einschränken, woanders zu intervenieren. Oder in Kurzform: Raus aus dem Irak, damit man woanders wieder besser rein kann!
Bei den derzeitigen Kämpfen und Attentaten geht es nicht nur gegen die US-Besatzer, sondern hauptsächlich um die künftigen Grenzen zwischen den Siedlungsgebieten der Kurden, Sunniten und Schiiten. Dort, wo diese Grenzen mehr oder minder feststehen und die Herrschaft gesichert ist, bleibt es relativ ruhig. Das heisst: Im schiitischen Basra ist die Lage fast so stabil wie in der kurdischen Hauptstadt Erbil. Nur dort, wo die Grenzen nicht klar sind und wo Sunniten mit Schiiten auf engem Raum zusammenleben, fliegen die Körperteile der Selbstmordattentäter und ihrer Opfer durch die Luft.
Militär - Geheimdienst hat Kontrolle verloren
Inzwischen hat auch der amerikanische Militärgeheimdienst die Übersicht verloren. Im Irak sollen derzeit über dreissig Privatarmeen, Schutztruppen, Kampfgruppen, Terrororganistionen und Banden aktiv sein. Die Siedlungsgebiete der Sunniten und Schiiten sind ineinander verzahnt und nicht klar getrennt. Der sunnitische Diktator Saddam Hussein hatte mit eiserner Hand alle Spannungen zwischen den grossen Glaubensgruppen unterdrückt. Die Sunniten mit rund 20 Prozent der Bevölkerung haben davon profitiert. Die Kurden mit rund 30 Prozent und die Schiiten mit rund 50 Prozent der Bevölkerung sind von von Saddam oft blutig verfolgt und unterdrückt worden.
Im Irak geschieht derzeit eine „religiöse Säuberung.“ In schiitischen Regionen liegen sunnitische Enklaven wie umgekehrt viele Schiiten in sunnitischen Gebieten siedeln. Vor allem in Bagdad ist die Teilung der Stadt in einen schiitischen Osten und einen sunnitischen Westen weit fortgeschritten. Grob gesprochen bildet der Tigris die Grenze, dessen Ufer vom Regierungsviertel der „Grünen Zone“ und von Positionen der amerikanischen und irakischen Armee gesäumt werden. Während Adhamija der einzige Sunnitenbezirk östlich des Tigris bleibt, sind die sunnitischen Bezirke im Westen wie Ghasalija, Ameriya, Jihad oder Daura von schiitischen Enklaven und gemischten Distrikten durchsetzt. Beide Parteien suchen über den Terror der jeweiligen Milizen ihre Gebiete Strasse für Strasse und Haus für Haus zu erweitern. Nicht sichtbare Frontlinien durchlaufen die Stadt, die sich täglich zum Nachteil der Sunniten verändern.
Auslöschung der Sunniten?
Madinat Al Sadr oder Sadr-City trägt den Namen einer alten schiitischen Familie, deren jüngster Sprössling Muktada Al Sadr eine Miliz von 60 000 Mann kommandiert. Die Regierung hat hier nichts zu sagen. Von hier aus werden Aktionen gegen sunnitische Stadtteile gestartet. Ohne Mitwirkung der Regierung oder der Amerikaner ist eine Umschichtung der Bevölkerung bereits in vollem Gange. Seit dem Sturz Saddam haben etwa zwei Millionen Menschen ihre bisherigen Wohnorte verlassen. Kurdistan muss sich gegen einen Ansturm sunnitischer Flüchtlingen aus dem Süden wehren. Wer es sich leisten konnte, ist nach Jordanien, Syrien oder nach Saudi-Arabien geflüchtet. Saudi-Arabien hat bereits angekündigt, bei einem Abzug der US-Truppen militärisch zu intervenieren, um eine Auslöschung der Sunniten zu verhindern. Ein Eingreifen der Saudis aber könnte eine Invasion des Irans und einen allgemeinen Nahostkrieg auslösen.
Die Baker-Kommission spricht sich in 79 Empfehlungen für eine „Irakisierung“ des Krieges und eine Stärkung der in sich gespalteten Zentralregierung aus. Nach und nach könnten dann ab 2008 amerikanische Truppen abgezogen werden, während „embedded troops“ (eingebettete Truppen) zur Ausbildung der irakischen Armee zurückbleiben. Der Regierung in Bagdad werden „milestones“ vorgegeben. Das sind Zeitlimitis, bis zu denen sie diesen oder jenen Schritt in Richtung „National reconciliation“ zu vollziehen hat. Es wird weiters festgestellt, dass die neü irakische Armee mit insgesamt 300 000 Mann kaum brauchbar ist. Ausserdem ist sie von der Mahdi-Armee Al Sadrs unterwandert.
Al Sadr würde ausserdem die Ministerien für Gesundheit, Landwirtschaft und Transport kontrollieren. Schon mehrmals sind Verbände der neuen Regierungsarmee in Krisengebiet entsandt worden. Und jedesmal mussten ihnen US-Truppen zu Hilfe eilen. Daher scheint die bereits 2003 erzwungene Auflösung der Saddam-Armee der erste schwere Fehler der amerikanischen Besatzungspolitik gewesen zu sein. Man hätte die auf Saddam eingeschworenen Offiziere entlassen, die Truppen selbst jedoch beibehalten können. Es ist kein Geheimnis, dass sich ehemalige Offiziere und Soldaten dem sunnitischen Widerstand und anderen Privatarmeen angeschlossen haben.
Die Verwaltung funktioniere nicht. Immer wieder würden sunnitischen Stadtteilen die Elektrizität abgedreht werden. Es würden Strommasten gesprengt und anrückende Reparaturteams unter Beschuss genommen werden. In Bagdad etabliere sich eine schiitische Dilktatur, die von Ministerpräsident Al Maliki entweder geduldet oder heimlich gefördert werde. Die amerikanischen Truppen seien hilflos.
Durch das Rotationsprinzip der Armee könnten die Einheiten nicht lange genug im Irak bleiben, um Beziehungen zur Bevölkerung zu entwickeln und um Vertrauen zu gewinnen. Unter den rund tausend Angestellten der amerikanischen Botschaft würden sich nur sechs Personen befinden, die arabisch sprechen könnten. Enorme Mengen an Ausrüstung würden der Armee jeden Tag gestohlen werden. Empfehlung Nr. 23 bestätigt einen alten Verdacht, wonach sich die USA Unmengen irakischen Öls aneignen: „The president should restate that the USA do not seek to control Iraqs oil.“ (Der Präsident sollte versichern, dass die USA keine Kontrolle des irakischen Öls anstreben).
Neue diplomatische Offensive
Als ehemaliger Aussenminister favorisiert Baker naturgemäss eine NDO (New Diplomatic Offensive“ Neue Diplomatische Offensive). Eine „Iraqi Support Group“ wäre eine Verhandlungsrunde, an der neben den USA und dem Irak auch Syrien und der Iran teilnehmen sollen. Der Iran soll davon überzeugt werden, dass ein Zerfall des Iraks Unruhen in seinen Territorium auslösen würde. Der Iran hat in Wirklichkeit solche Unruhen nicht zu befürchten, sondern kann bei einem Zerfall des Iraks nur gewinnen.
Die zweitstärkste, schiitische Fraktion ist als „Oberste Rat der islamischen Revolution im Irak“ (SCIRI) seit jeher ein Instrument Teherans. Ausserdem sei laut Studiengruppe eine Lösung im Irak unmöglich, wenn nicht auch das Palästinenserproblem geregelt werde. Es ist auch die Rede davon, dass Israel die Golanhöhen an Syrien zurückgeben könnte. Den amerikanischen Medien wird hinsichtlich der Kriegsfolgen im Irak „significant underreporting“ unterstellt.
Der Irak-Bericht scheint eine misslungene Pflichtübung zu sein, da das zentrale Problem nicht angesprochen und auch die Frage nach der Schuld nicht gestellt wurde. Um ein Problem zu lösen, muss zunächst dargestellt werden, wie es dazu gekommen ist. Die schwache und zerrissene Regierung in Bagdad soll nun die Folgen einer gescheiterten Grossmachtpolitik übernehmen. Die von Baker vorgeschlagene „Irakisierung“ erinnert in vielen Details an die „Vietnamisierung“ des Krieges, die 1975 zu einer Katastrophe für die USA geführt hat.
Der Bericht will nicht wahr haben, dass die einzige Lösung ähnlich wie in Bosnien in der Teilung des Landes und in der Abgrenzung der Siedlungsgebiete besteht. Massenhafte Umsiedlungsaktionen werden notwendig sein, um die Gebiete der Schiiten und Sunniten abzugrenzen und die Enklaven zu verschieben. Auch die Bildung einer Föderation mit begrenzten Befugnissen könnte ins Auge gefasst werden. Warum im Irak mit allen Kräften vermieden wird, was in Bosnien 1995 mit den Verhandlungen von Dayton nachweisbar den Krieg beendet hat, ist ein Rätsel, mit dem sich der neu gewählte amerikanische Kongress bei kommenden Debatten befassen wird.
sfux - 18. Dez, 08:43 Article 2086x read