Festung Europa - "Leaving is not always living"
Die Festung Europa wird mit allen Mitteln verteidigt – direkt an den Grenzen und seit neuestem sogar in den Ländern aus denen die Flüchtlinge stammen: Ein legitimer Abschreckungsversuch?
Michael Schulze von Glaßer – Ein Regenschauer mit Blitz und Donner zieht über die Stadt. Ein junger Mann steht in einer Telefonzelle und wählt eine Nummer. Am anderen Ende der Leitung klingelt ein Telefon. Ein älterer Mann mit weißem Bart liest gerade Zeitung. Er sitzt auf einem schwarzen Sofa in einem gemütlich aussehenden Raum, ein Bild hängt an der Wand, darunter auf einem kleinen Beistelltisch neben dem klingelnden Telefon ein zweites mit dem Portrait des jungen Anrufers.
Der ältere Herr geht ans Telefon: „Hallo!“ klingt es aus dem Hörer. „Ich bin’s Christian“ – „Ah, Christian – wie geht es dir?“ erwidert der Mann, der offenbar der Vater des Anrufers ist. Christian geht es gut und auch auf die Frage des Vaters, ob er gut angekommen sei, antwortet der junge Mann „Ja – es gab keine Probleme bei der Reise“. Der junge Mann sagt, er wohne zusammen mit Freunden. „Verheimlichst du mir etwas?“ fragt der Vater – „Nein, wirklich nicht“, ist die Antwort darauf.
Er sei nur die ganze Zeit durch die Stadt gerannt und hatte einen stressigen Tag. „Hast du dich in der Uni eingeschrieben?“ – „Ja, habe ich…“. Christian fragt seinen Vater, ob es seinen Brüdern und Schwestern gut geht: „Ja, ihr Unterricht ist pünktlich gestartet“. Dem Vater geht es auch gut. Christian bittet seinen Vater noch alle von ihm zu grüßen, dann endet das Telefonat nach einer kurzen Verabschiedung.
Welch Harmonie! Was sich wie ein Telefonatmitschnitt aus der „Lindenstraße“ anhört, ist jedoch pure Abschreckung. Das Ganze ist eine fast zwei Minuten lange Fernsehwerbung – doch hier soll nicht für etwas geworben werden, sondern gegen etwas. Der junge Mann, der im Regen steht; ist kein „normaler“ Mensch, sondern soll einen illegal eingewanderten jungen Afrikaner darstellen. Auch der Vater am anderen Ende der Leitung sieht afrikanisch aus.
Die Harmonie wird spätestens durch die in dieser „Anti-Werbung“ gezeigten Bilder zerstört. Als der Vater seinen Sohn nach der Unterkunft fragt, und dieser behauptet mit Freunden zusammen zu leben, werden Obdachlose unter einer Brücke gezeigt. Christian hetzte auch nicht umsonst durch die Stadt, an dieser Stelle des Telefonats werden Jagdszenen gezeigt – Christian rannte scheinbar vor Polizisten weg. Der Höhepunkt: Anstatt, dass der junge Afrikaner studiert, bettelt er am Straßenrand mit einem kleinen Schild – „Aidez moi“ – „Helfen Sie mir“ – der ganze Film ist auf Französisch. Was das Ganze soll, wird im Abspann deutlich „Glauben Sie nicht alles was Sie hören – Ausreisen ist nicht immer leben – Internationale Organisation für Migration“.
Der Werbefilm soll Menschen aus der Dritten Welt, speziell aus Afrika, davor abschrecken in die Industrienationen einzuwandern – eine Kampagne der EU und der Schweiz, die das rund 250.000 Euro teure Projekt finanzieren. Neben dem Werbespot wird auch in Radios und auf Flyern dafür „geworben“, nicht in die Industrienationen einzuwandern. Der Fernsehwerbespot lief erst kürzlich in der Halbzeitpause des Fußballländerspieles der Herren-Nationalmannschaften Schweiz – Nigeria. Auch in Kamerun werben die EU und die Schweiz dafür, nicht in Europa einzuwandern – Verhandlungen mit dem Kongo wurden auch schon aufgenommen.
Es stellt sich die Frage ob es legitim ist, die Menschen aus den verarmten Ländern Afrikas davor zu warnen, dass für sie in den europäischen Industrienationen „Milch und Honig“ nicht fließen oder ob es einfach nur eine dreiste Kampagne gegen afrikanische Migranten ist. Zunächst sollte aber die Frage gestellt werden, was die „Macher“ dieser Kampagne eigentlich für ein Weltbild haben.
Die Idee für die Kampagne hatte Eduard Gnesa (55) vom Schweizer Bundesamt für Migration: „Die Flüchtlinge sollen sich keine falschen Vorstellungen machen von der Schweiz“, so Gnesa zu seiner Schockkampagne. Doch welche Vorstellung hat der Direktor des Bundesamtes von Afrika? Wäre das Thema nicht so ernst, könnte man meinen es handele sich bei dem Fernsehspot um eine Satire – die stilistischen Mittel wurden übertrieben auffällig verwendet.
Natürlich steht der arme Christian mitten in finsterer Nacht an der Telefonzelle im Regen und sein Vater daheim in einer behaglichen Wohnung. Warum ist Christian überhaupt ausgewandert, wenn sein Vater – dem Wohnraum und der Kleidung nach zu urteilen – zur reichen Oberschicht gehört? Auch an Hunger scheint der gut genährte Vater nicht zu leiden.
Ein weiterer Kritikpunkt: Um sich bei einer Universität bewerben zu können, bedarf es eines hohen Bildungsgrades, den die meisten Menschen aus den Ländern der Dritten Welt nicht erreichen können – es sei denn, sie kommen aus der kleinen aber reichen Oberschicht. Der Fernsehspot ist also höchst unrealistisch und wegen seiner peinlichen Fehler unglaubwürdig. Doch ist die Absicht der Kampagne – den Flüchtlingen zu zeigen, dass sie sich keine Falsche Hoffnung machen sollen – ebenso unglaubwürdig? Oder geht es schlicht um das eigene nationale Interesse der EU und der Schweiz keine weiteren Menschen mehr rein zu lassen?
Den meisten Migranten, die illegal in die EU oder die Schweiz einwandern, geht es sehr schlecht wie das Beispiel EU zeigt: Schon die Anreise gestaltet sich schwierig und endet nicht selten tödlich. Allein im Jahr 2006 sollen 6.000 Menschen, beim Versuch von Afrika aus mit einem Boot auf die zu Spanien gehörende Inselgruppe Kanaren zu gelangen, ums Leben gekommen sein. Rund 31.000 Menschen überlebten die gefährliche Reise in den wackeligen "Nussschalen", die meist vom 1.300 Kilometer entfernten Senegal startet.
An der kanarischen beziehungsweise spanischen EU-Außengrenze wurden im Jahr 2006 rund 4.000 Flüchtlinge von den Behörden aus dem Meer gefischt und wieder in ihre Ursprungsländer zurück geschickt – oftmals wieder in den gefährlichen kleinen Booten, die nach der langen Fahrt meist in einem miserablen Zustand sind, ganz zu schweigen von fehlender Verpflegung und unmenschlichen Bedingungen an Bord der meist überfüllten Boote.
Es gibt auch Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen: Am 24. November 2007 demonstrierten im nordrhein-westfälischen Neuss hunderte Menschen gegen die Abschiebung von Ausländern.
Nicht viel anders sieht die Situation in Griechenland aus. Täglich versuchen Flüchtlinge von der Türkei aus in die EU zu gelangen. Oft über den Landweg – doch mittlerweile sind die Kontrollen scharf, daher versuchen die verzweifelten Menschen per Boot Griechenland und somit die EU zu erreichen. Im Wirrwarr der griechischen und türkischen Kleininseln in der Ägäis hat die Küstenwache allerhand zu tun – teilweise sind die Inseln der beiden Staaten nur ein paar Kilometer voneinander entfernt und per Paddelboot zu erreichen. Besonders die griechischen Inseln Samos, Chios und Lesbos sind immer wieder Ziel von Flüchtlingen.
Dennoch ist die Überfahrt alles andere als eine Sight-Seeing-Tour wie es die Touristen in der Region gern machen: Viele Migranten verlieren bei der Überfahrt ihr Leben. Nicht selten werden Leichen an den Stränden der griechischen Urlaubsinseln angespült.
Obwohl die Migranten meist nichts verbrochen haben, werden sie in so genannte Lager und auch Abschiebeknäste gesteckt – ohne Anklage. In Neuss gibt es einen Abschiebeknast speziell für Frauen.
Neben den kanarischen Inseln und Griechenland versuchen es die meisten Menschen von Afrika aus nach Malta beziehungsweise Italien zu gelangen. Auch hier verlieren immer wieder Menschen ihr Leben. Allein im Mittelmeer sollen laut UNHCR – dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen – 2007 rund 500 Flüchtlinge ertrunken sein. Jedoch merkt die Organisation an, dass die wirkliche Zahl weit höher ist; manchmal sinken die kleinen Boote der flüchtenden Menschen und hinterlassen keine Spur.
Inoffizielle Zahlen sprechen von über 1.000 ertrunkenen Menschen die an der EU-Festung ihr Leben ließen. Haben die oft vertriebenen Menschen das rettende Ufer erreicht geht das Leid weiter – viele besitzen nur das, was sie am Körper tragen - wenig Startkapital für ein neues Leben. Werden die Menschen wie in den meisten Fällen von den Behörden aufgegriffen kommen sie in Lager.
In Griechenland und anderen EU-Staaten können sie bis zu 3-Monate eingesperrt werden – ohne etwas verbrochen zu haben und ohne Chance auf irgendwelchen Rechtsanspruch. Die Lager sind allzu oft überfüllt und laut Amnesty International herrschen miserable und unmenschliche Zustände. Auch gegen die Küstenwache erhebt die Menschenrechtsorganisation so wie der UNHCR schwere Misshandlungsvorwürfe – so kursieren Gerüchte von Flüchtlingen die mit verbundenen Händen zurück ins Meer geworfen wurden. Die griechische Küstenwache steckt in der Zwickmühle:
Oft erwischen sie Menschen in kleinen Booten, dabei die EU zu erreichen. Die Küstenwache hält die Menschen auf – nimmt sie eventuell an Bord oder – wenn der türkische Küstenstreifen noch in Sichtweite ist – zwingt sie gleich in ihrem Boot zur Umkehr. Die Flüchtlinge landen so oder so an der Grenze zwischen Internationalem Gewässer und türkischem Gewässer – begleitet von der griechischen Küstenwache. Diese darf jedoch nicht ins türkische Gewässer eindringen und kann die Flüchtlinge daher nicht in der Türkei – die Flüchtlinge noch schlechter behandelt - „abliefern“. Wie also die Flüchtlinge zwingen alleine ans türkische Festland zu rudern?
Viele Flüchtlinge berichten davon, dass ihr Schlauchboot von der griechischen Küstenwache nahe türkischem Hoheitsgewässer zerstochen wurde um die Menschen dazu zu zwingen flott in Richtung nächstgelegenes Ufer eben das der Türkei – zu paddeln. Fotos aufgeschlitzter Schlauchboote an den Küsten belegen dies. Eine andere Methode die auch angewendet wird ist, den Flüchtlingen einfach zu sagen, dass die Küste zu Griechenland gehört. Die Menschen paddeln dann freiwillig und mit dem Gedanken bald das rettende EU-Ufer erreicht zu haben in ihr Verderben – die Küstenwache dein Freund und Helfer?
Die Organisation Pro Asyl brachte im Oktober 2007 eine sehr gute Broschüre über die Schicksale der Flüchtlinge in der Ägäis heraus (Link siehe unten)
Nicht nur die Ausländerinnen und Ausländer müssen in der Schweiz und in der EU mit staatlicher Repression und Gewaltanwendung rechnen – auch Menschen die sich wie auf der Demonstration in Neuss für Flüchtlinge einsetzen werden kriminalisiert: ein Polizist hält auf der Demonstration schon einmal den Knüppel bereit um – falls der Befehl kommt – auf die Menge der Demonstranten (die Menschen im Hintergrund) einzuprügeln.
Die Wahrheit ist doch: die EU und die Schweiz sind selbst Schuld am Leid der Flüchtlinge. Nicht nur, weil die Einreise der Menschen mit allen – auch menschenrechtswidrigen – Mitteln verhindert wird. Erst einmal in der EU angekommen geht das Leid weiter. Nichts mehr zu sehen von Menschenrechten. Oftmals leben die Menschen in der Illegalität – müssen beispielsweise um zu überleben für einem Hungerlohn auf spanischen Obstplantagen arbeiten oder werden anderweitig – auch sexuell – ausgebeutet. Hinzu kommt die psychische Belastung – die Angst von den Behörden entdeckt zu werden. Werden sie entdeckt, drohen Gefängnis und Abschiebung – nur weil sie sich auf einem bestimmten Teil der Erde aufgehalten haben: wo ist die Freiheit?
Niemand verlässt seine Heimat freiwillig, die Flucht aus dem Heimatland ist ein großer Schritt, das Leid der Menschen scheint also nicht unerheblich zu sein. Wer in seinem Heimatland keine Zukunft mehr für sich und seine Familie sieht wird sich auch vom schlechten Werbespot der EU und der Schweiz nicht abschrecken lassen. Das es Ausländern in der EU und der Schweiz miserabel geht – wie es auch der Werbespot zeigt – ist die traurige Wahrheit. Was allerdings verschwiegen wird ist, dass die westlichen Nationen selbst die Schuld für die schlechte Situation der Flüchtlinge zu verantworten haben.
Die Verweigerung der Arbeitserlaubnis und schlechte Unterbringung sind nur zwei repressive Maßnahmen, die Flüchtlingen in den westlichen Ländern blühen. Wären die EU und die Schweiz nicht so Ausländerfeindlich, wäre auch der Werbespot überflüssig – so gesehen ist der Spot ein Eingeständnis der EU und der Schweiz an die eigene Menschenverachtung.
PDF-Download:
Broschüre von Pro Asyl „Über die Situation der Flüchtlinge in der Ägäis und die Praktiken der griechischen Küstenwache“
Indymedia Germany (Ralf Streck):
"Frontex sorgt für Tausende Tote"
Michael Schulze von Glaßer – Ein Regenschauer mit Blitz und Donner zieht über die Stadt. Ein junger Mann steht in einer Telefonzelle und wählt eine Nummer. Am anderen Ende der Leitung klingelt ein Telefon. Ein älterer Mann mit weißem Bart liest gerade Zeitung. Er sitzt auf einem schwarzen Sofa in einem gemütlich aussehenden Raum, ein Bild hängt an der Wand, darunter auf einem kleinen Beistelltisch neben dem klingelnden Telefon ein zweites mit dem Portrait des jungen Anrufers.
Der ältere Herr geht ans Telefon: „Hallo!“ klingt es aus dem Hörer. „Ich bin’s Christian“ – „Ah, Christian – wie geht es dir?“ erwidert der Mann, der offenbar der Vater des Anrufers ist. Christian geht es gut und auch auf die Frage des Vaters, ob er gut angekommen sei, antwortet der junge Mann „Ja – es gab keine Probleme bei der Reise“. Der junge Mann sagt, er wohne zusammen mit Freunden. „Verheimlichst du mir etwas?“ fragt der Vater – „Nein, wirklich nicht“, ist die Antwort darauf.
Er sei nur die ganze Zeit durch die Stadt gerannt und hatte einen stressigen Tag. „Hast du dich in der Uni eingeschrieben?“ – „Ja, habe ich…“. Christian fragt seinen Vater, ob es seinen Brüdern und Schwestern gut geht: „Ja, ihr Unterricht ist pünktlich gestartet“. Dem Vater geht es auch gut. Christian bittet seinen Vater noch alle von ihm zu grüßen, dann endet das Telefonat nach einer kurzen Verabschiedung.
Welch Harmonie! Was sich wie ein Telefonatmitschnitt aus der „Lindenstraße“ anhört, ist jedoch pure Abschreckung. Das Ganze ist eine fast zwei Minuten lange Fernsehwerbung – doch hier soll nicht für etwas geworben werden, sondern gegen etwas. Der junge Mann, der im Regen steht; ist kein „normaler“ Mensch, sondern soll einen illegal eingewanderten jungen Afrikaner darstellen. Auch der Vater am anderen Ende der Leitung sieht afrikanisch aus.
Die Harmonie wird spätestens durch die in dieser „Anti-Werbung“ gezeigten Bilder zerstört. Als der Vater seinen Sohn nach der Unterkunft fragt, und dieser behauptet mit Freunden zusammen zu leben, werden Obdachlose unter einer Brücke gezeigt. Christian hetzte auch nicht umsonst durch die Stadt, an dieser Stelle des Telefonats werden Jagdszenen gezeigt – Christian rannte scheinbar vor Polizisten weg. Der Höhepunkt: Anstatt, dass der junge Afrikaner studiert, bettelt er am Straßenrand mit einem kleinen Schild – „Aidez moi“ – „Helfen Sie mir“ – der ganze Film ist auf Französisch. Was das Ganze soll, wird im Abspann deutlich „Glauben Sie nicht alles was Sie hören – Ausreisen ist nicht immer leben – Internationale Organisation für Migration“.
Der Werbefilm soll Menschen aus der Dritten Welt, speziell aus Afrika, davor abschrecken in die Industrienationen einzuwandern – eine Kampagne der EU und der Schweiz, die das rund 250.000 Euro teure Projekt finanzieren. Neben dem Werbespot wird auch in Radios und auf Flyern dafür „geworben“, nicht in die Industrienationen einzuwandern. Der Fernsehwerbespot lief erst kürzlich in der Halbzeitpause des Fußballländerspieles der Herren-Nationalmannschaften Schweiz – Nigeria. Auch in Kamerun werben die EU und die Schweiz dafür, nicht in Europa einzuwandern – Verhandlungen mit dem Kongo wurden auch schon aufgenommen.
Es stellt sich die Frage ob es legitim ist, die Menschen aus den verarmten Ländern Afrikas davor zu warnen, dass für sie in den europäischen Industrienationen „Milch und Honig“ nicht fließen oder ob es einfach nur eine dreiste Kampagne gegen afrikanische Migranten ist. Zunächst sollte aber die Frage gestellt werden, was die „Macher“ dieser Kampagne eigentlich für ein Weltbild haben.
Die Idee für die Kampagne hatte Eduard Gnesa (55) vom Schweizer Bundesamt für Migration: „Die Flüchtlinge sollen sich keine falschen Vorstellungen machen von der Schweiz“, so Gnesa zu seiner Schockkampagne. Doch welche Vorstellung hat der Direktor des Bundesamtes von Afrika? Wäre das Thema nicht so ernst, könnte man meinen es handele sich bei dem Fernsehspot um eine Satire – die stilistischen Mittel wurden übertrieben auffällig verwendet.
Natürlich steht der arme Christian mitten in finsterer Nacht an der Telefonzelle im Regen und sein Vater daheim in einer behaglichen Wohnung. Warum ist Christian überhaupt ausgewandert, wenn sein Vater – dem Wohnraum und der Kleidung nach zu urteilen – zur reichen Oberschicht gehört? Auch an Hunger scheint der gut genährte Vater nicht zu leiden.
Ein weiterer Kritikpunkt: Um sich bei einer Universität bewerben zu können, bedarf es eines hohen Bildungsgrades, den die meisten Menschen aus den Ländern der Dritten Welt nicht erreichen können – es sei denn, sie kommen aus der kleinen aber reichen Oberschicht. Der Fernsehspot ist also höchst unrealistisch und wegen seiner peinlichen Fehler unglaubwürdig. Doch ist die Absicht der Kampagne – den Flüchtlingen zu zeigen, dass sie sich keine Falsche Hoffnung machen sollen – ebenso unglaubwürdig? Oder geht es schlicht um das eigene nationale Interesse der EU und der Schweiz keine weiteren Menschen mehr rein zu lassen?
Den meisten Migranten, die illegal in die EU oder die Schweiz einwandern, geht es sehr schlecht wie das Beispiel EU zeigt: Schon die Anreise gestaltet sich schwierig und endet nicht selten tödlich. Allein im Jahr 2006 sollen 6.000 Menschen, beim Versuch von Afrika aus mit einem Boot auf die zu Spanien gehörende Inselgruppe Kanaren zu gelangen, ums Leben gekommen sein. Rund 31.000 Menschen überlebten die gefährliche Reise in den wackeligen "Nussschalen", die meist vom 1.300 Kilometer entfernten Senegal startet.
An der kanarischen beziehungsweise spanischen EU-Außengrenze wurden im Jahr 2006 rund 4.000 Flüchtlinge von den Behörden aus dem Meer gefischt und wieder in ihre Ursprungsländer zurück geschickt – oftmals wieder in den gefährlichen kleinen Booten, die nach der langen Fahrt meist in einem miserablen Zustand sind, ganz zu schweigen von fehlender Verpflegung und unmenschlichen Bedingungen an Bord der meist überfüllten Boote.
Es gibt auch Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen: Am 24. November 2007 demonstrierten im nordrhein-westfälischen Neuss hunderte Menschen gegen die Abschiebung von Ausländern.
Nicht viel anders sieht die Situation in Griechenland aus. Täglich versuchen Flüchtlinge von der Türkei aus in die EU zu gelangen. Oft über den Landweg – doch mittlerweile sind die Kontrollen scharf, daher versuchen die verzweifelten Menschen per Boot Griechenland und somit die EU zu erreichen. Im Wirrwarr der griechischen und türkischen Kleininseln in der Ägäis hat die Küstenwache allerhand zu tun – teilweise sind die Inseln der beiden Staaten nur ein paar Kilometer voneinander entfernt und per Paddelboot zu erreichen. Besonders die griechischen Inseln Samos, Chios und Lesbos sind immer wieder Ziel von Flüchtlingen.
Dennoch ist die Überfahrt alles andere als eine Sight-Seeing-Tour wie es die Touristen in der Region gern machen: Viele Migranten verlieren bei der Überfahrt ihr Leben. Nicht selten werden Leichen an den Stränden der griechischen Urlaubsinseln angespült.
Obwohl die Migranten meist nichts verbrochen haben, werden sie in so genannte Lager und auch Abschiebeknäste gesteckt – ohne Anklage. In Neuss gibt es einen Abschiebeknast speziell für Frauen.
Neben den kanarischen Inseln und Griechenland versuchen es die meisten Menschen von Afrika aus nach Malta beziehungsweise Italien zu gelangen. Auch hier verlieren immer wieder Menschen ihr Leben. Allein im Mittelmeer sollen laut UNHCR – dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen – 2007 rund 500 Flüchtlinge ertrunken sein. Jedoch merkt die Organisation an, dass die wirkliche Zahl weit höher ist; manchmal sinken die kleinen Boote der flüchtenden Menschen und hinterlassen keine Spur.
Inoffizielle Zahlen sprechen von über 1.000 ertrunkenen Menschen die an der EU-Festung ihr Leben ließen. Haben die oft vertriebenen Menschen das rettende Ufer erreicht geht das Leid weiter – viele besitzen nur das, was sie am Körper tragen - wenig Startkapital für ein neues Leben. Werden die Menschen wie in den meisten Fällen von den Behörden aufgegriffen kommen sie in Lager.
In Griechenland und anderen EU-Staaten können sie bis zu 3-Monate eingesperrt werden – ohne etwas verbrochen zu haben und ohne Chance auf irgendwelchen Rechtsanspruch. Die Lager sind allzu oft überfüllt und laut Amnesty International herrschen miserable und unmenschliche Zustände. Auch gegen die Küstenwache erhebt die Menschenrechtsorganisation so wie der UNHCR schwere Misshandlungsvorwürfe – so kursieren Gerüchte von Flüchtlingen die mit verbundenen Händen zurück ins Meer geworfen wurden. Die griechische Küstenwache steckt in der Zwickmühle:
Oft erwischen sie Menschen in kleinen Booten, dabei die EU zu erreichen. Die Küstenwache hält die Menschen auf – nimmt sie eventuell an Bord oder – wenn der türkische Küstenstreifen noch in Sichtweite ist – zwingt sie gleich in ihrem Boot zur Umkehr. Die Flüchtlinge landen so oder so an der Grenze zwischen Internationalem Gewässer und türkischem Gewässer – begleitet von der griechischen Küstenwache. Diese darf jedoch nicht ins türkische Gewässer eindringen und kann die Flüchtlinge daher nicht in der Türkei – die Flüchtlinge noch schlechter behandelt - „abliefern“. Wie also die Flüchtlinge zwingen alleine ans türkische Festland zu rudern?
Viele Flüchtlinge berichten davon, dass ihr Schlauchboot von der griechischen Küstenwache nahe türkischem Hoheitsgewässer zerstochen wurde um die Menschen dazu zu zwingen flott in Richtung nächstgelegenes Ufer eben das der Türkei – zu paddeln. Fotos aufgeschlitzter Schlauchboote an den Küsten belegen dies. Eine andere Methode die auch angewendet wird ist, den Flüchtlingen einfach zu sagen, dass die Küste zu Griechenland gehört. Die Menschen paddeln dann freiwillig und mit dem Gedanken bald das rettende EU-Ufer erreicht zu haben in ihr Verderben – die Küstenwache dein Freund und Helfer?
Die Organisation Pro Asyl brachte im Oktober 2007 eine sehr gute Broschüre über die Schicksale der Flüchtlinge in der Ägäis heraus (Link siehe unten)
Nicht nur die Ausländerinnen und Ausländer müssen in der Schweiz und in der EU mit staatlicher Repression und Gewaltanwendung rechnen – auch Menschen die sich wie auf der Demonstration in Neuss für Flüchtlinge einsetzen werden kriminalisiert: ein Polizist hält auf der Demonstration schon einmal den Knüppel bereit um – falls der Befehl kommt – auf die Menge der Demonstranten (die Menschen im Hintergrund) einzuprügeln.
Die Wahrheit ist doch: die EU und die Schweiz sind selbst Schuld am Leid der Flüchtlinge. Nicht nur, weil die Einreise der Menschen mit allen – auch menschenrechtswidrigen – Mitteln verhindert wird. Erst einmal in der EU angekommen geht das Leid weiter. Nichts mehr zu sehen von Menschenrechten. Oftmals leben die Menschen in der Illegalität – müssen beispielsweise um zu überleben für einem Hungerlohn auf spanischen Obstplantagen arbeiten oder werden anderweitig – auch sexuell – ausgebeutet. Hinzu kommt die psychische Belastung – die Angst von den Behörden entdeckt zu werden. Werden sie entdeckt, drohen Gefängnis und Abschiebung – nur weil sie sich auf einem bestimmten Teil der Erde aufgehalten haben: wo ist die Freiheit?
Niemand verlässt seine Heimat freiwillig, die Flucht aus dem Heimatland ist ein großer Schritt, das Leid der Menschen scheint also nicht unerheblich zu sein. Wer in seinem Heimatland keine Zukunft mehr für sich und seine Familie sieht wird sich auch vom schlechten Werbespot der EU und der Schweiz nicht abschrecken lassen. Das es Ausländern in der EU und der Schweiz miserabel geht – wie es auch der Werbespot zeigt – ist die traurige Wahrheit. Was allerdings verschwiegen wird ist, dass die westlichen Nationen selbst die Schuld für die schlechte Situation der Flüchtlinge zu verantworten haben.
Die Verweigerung der Arbeitserlaubnis und schlechte Unterbringung sind nur zwei repressive Maßnahmen, die Flüchtlingen in den westlichen Ländern blühen. Wären die EU und die Schweiz nicht so Ausländerfeindlich, wäre auch der Werbespot überflüssig – so gesehen ist der Spot ein Eingeständnis der EU und der Schweiz an die eigene Menschenverachtung.
PDF-Download:
Broschüre von Pro Asyl „Über die Situation der Flüchtlinge in der Ägäis und die Praktiken der griechischen Küstenwache“
Indymedia Germany (Ralf Streck):
"Frontex sorgt für Tausende Tote"
sfux - 30. Dez, 20:28 Article 5156x read