Justiz in der Krise oder Krisenjustiz?
Dr. Alexander von Paleske - 2.8. 2009 --- Der ehemalige Berliner Generalstaatsanwalt Dr. Hans-Jürgen Karge im Interview.
Dr.Hans-Jürgen Karge
Foto: Dr. v. Paleske
- Er war der Leiter der grössten Staatsanwaltschaft der Bundesrepublik in Berlin Moabit von 1995-2006, damit Chef einer Behörde von 1000 Justizbediensteten darunter 350 Staatsanwälten.
- Er war umstritten. Die damalige Berliner Justizsenatorin Karin Schubert wollte ihn loswerden und schickte ihn in den vorzeitigen Ruhestand. Er klagte dagegen, die Berliner Verwaltungsgerichte versetzten der SPD-Senatorin Karin Schubert eine juristische Ohrfeige, er blieb im Amt.
- Er handelte sich Kritik von vielen Seiten ein , durch Äusserungen wie „Regelverstösse müssen zu Sanktionen führen, das ist überall so, von primitiven Buschnegern bis zu den wilden Tieren“ .
- Er forderte härtere Strafen und schnellere Verhaftungen.
- Ihm wurde Führungsstil nach Gutsherrenart in der Presse vorgeworfen.
- Er klärte den Schiedsrichterskandal auf
- Er führte die Ermittlungen gegen Michel Friedmann, den Medienstar und Multifunktionär, der schliesslich wegen Drogendelikten verurteilt wurde.
- Er wehrte sich vehement gegen politische Einflussnahmen auf Strafverfahren insbesondere im Zusammenhang mit dem Berliner Bankenskandal..
- Er trat 1965 in die SPD ein, und nach 43 Jahren Mitgliedschaft im vergangenen Jahr nach der Ypsilanti-Affäre wieder aus.
- Er war mein Ausbilder während meiner Referendarzeit bei der Staatsanwaltschaft in Darmstadt im Jahre 1974.
- Der ZEIT Herausgeber Michael Naumann bezeichnete ihn in einer Talkshow mehrfach als „durchgeknallten Staatsanwalt“ was Naumann eine Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen Beleidigung einbrachte. Im vergangenen Monat hob das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe diese Verurteilung allerdings wieder auf.
Es handelt sich um Dr. Hans-Jürgen Karge, den ich nach 34 Jahren nun als „Unruheständler", mittlerweile als Rechtsanwalt zugelassen, wiedertraf und für ein Interview gewinnen konnte.
Dieses Interview ist notwendigerweise lang, weil es nahezu alle aktuellen Probleme der heutigen Strafjustiz behandelt, aus der Sicht eines ehemaligen Generalstaatsanwalts, der nach wie vor kein Blatt vor den Mund nimmt, und deshalb haben wir es nicht gekürzt oder in Teile zerlegt.
Herr Karge, Sie sind mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, trotz Ruhestands, kürzlich wieder in die Schlagzeilen gelangt. Wie haben Sie diese Entscheidung aufgenommen?
Ich halte die Entscheidung für falsch, weil der Amtsträger, Leiter der Staatsanwaltschaft, behandelt wird, wie ein Politiker im Wahlkampf. Der Leiter einer Staatsanwaltschaft in Deutschland soll aber nicht politischer Beamter sein, sondern sachbezogen ermitteln und dann muss er sich auch nicht so behandeln lassen, wie das im Wahlkampf unter Politikern so üblich ist.
Sie sind ja jemand, der gerne sich pointiert ausdrückt und auch vor kräftigen Formulierungen nicht zurückschreckt, wird man da nicht automatisch an den seinerzeitigen Schmid-Spiegel Fall des Bundesverfassungsgerichts erinnert, wonach auf groben Klotz ein grober Keil gehört?
Ja, aber auch das sind politische Auseinandersetzungen. Die Äusserung von Herrn Naumann, den ich persönlich nicht kenne und der mich nicht kennt, bezog sich auf Einzelheiten eines Strafermittlungsverfahrens (gegen Michel Friedmann, der Verf.), und da müssen andere Regeln gelten. Die Staatsanwälte müssen vor irgendwelchen Verleumdungen geschützt werden.
Was war denn eigentlich nach Ihrer Auffassung der Hintergrund gewesen für die Äusserung des Herrn Naumann, der Sie als „durchgeknallten Staatsanwalt“ bezeichnete bzw. verleumdete?
Die Staatsanwaltschaft in Berlin hatte das Problem, einen Prominenten der deutschen Medienlandschaft zunächst als Zeugen zu haben und dann festzustellen, dass der Herr auch Rauschgift genommen hatte, sodass er zum Beschuldigten wurde. Dieser Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz , der dann ja auch gerichtlich bestätigt wurde, führte zu Durchsuchungen, und hat bei Bundestagsabgeordneten und vielen Journalisten grosses Interesse erregt, weil man wissen wollte, wer ausserdem noch sich dieser ukrainischen Damen bedient hatte.
Es waren ja wohl gerade auch die Art und Weise der Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten, ich glaube es war seinerzeit durch die GSG9, die Ihnen den Ruf eintrug, ein besonders aggressiver Hardliner zu sein. Wie stehen Sie denn heute dazu?
Also Hardliner, da würde ich mich gar nicht dagegen wehren, aber das hat mit diesem Verfahren überhaupt nichts zu tun. Ein Berliner Kollege ist nach Frankfurt gefahren und hat dort durchsucht, ohne dass ich dabei war, oder Einzelheiten festgelegt habe.
Es hatte – bis zu den Beschimpfungen des Herrn Naumann – auch keinerlei Auffälligkeiten gegeben, weder von dem Beschuldigten, noch von seinem Verteidiger. Die Aufregung beruhte ausschliesslich darauf, dass wir uns getraut haben, bei diesem Prominenten mal nachzugucken.
Sie sind nun seit drei Jahren Pensionär und mittlerweile Rechtsanwalt geworden . Wie sehen Sie denn eigentlich ihre frühere Tätigkeit aus der Sicht desjenigen, der, ich sag das mal salopp, „auf die andere Seite der Barrikade“ gewechselt ist?
Ich habe mich auf der früheren Barrikadenseite (als Staatsanwalt der Verf) wohler gefühlt , weil es, wie ich jetzt feststelle, sehr schwer ist, mit Staatsanwaltschaften und Behörden „von aussen“ zu kommunizieren . Die Kommunikation wird schlicht verweigert und man steht mit seinen Mandanten ziemlich einsam vor hohen Mauern.
Wäre es nicht sinnvoller, wenn man als Staatsanwälte z.B. berufserfahrene Rechtsanwälte berufen würde, statt Berufsanfänger mit Prädikatsexamina?
Das halte ich seit 40 Jahren für zwingend nötig. Das ist ein alter Reformvorschlag aus den Jahren 1968ff. Derartige Reformforderungen sind in Deutschland auch nicht ansatzweise umgesetzt worden. Wenn man mit Juristen aus dem anglo-amerikanischen Bereich spricht, die 28 jährige Berufsanfänger z.B. als Richter hier vorfinden, dann verstehen diese Leute die Welt nicht mehr.
Man muss eigentlich die Festungen der Justiz von aussen erst einmal kennengelernt haben, um dann, wenn man drinnen ist, es besser zu machen.
Kommen wir noch einmal auf Ihre Karriere zurück. Berlin war ja der Höhepunkt und Abschluss einer langen Karriere als Staatsanwalt, zunächst in Darmstadt, dann als Referent im hessischen Justizministerium, dort zuständig für die Sicherheit in den Justizvollzugsanstalten, dann abgeordnet zur Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, dann betraut mit dem Aufbau einer Staatsanwaltschaft in Thüringen, später als leitender Staatsanwalt in Marburg und schliesslich Berlin.
Aus Ihrer Sicht, was war Ihre beste Dienstzeit?
Die am meisten befriedigende Zeit war der Aufbau einer Staatsanwaltschaft in Thüringen, wo wir mit SED-Staatsanwälten, die ihre Parteibücher zurückgegeben hatten, eine Staatsanwaltschaft im westlichen Sinne wiederaufgebaut haben. Die Staatsanwaltschaften nach westlicher Prägung wurden ja kurz nach Gründung der DDR abgeschafft.
Die von mir ausgeübte Tätigkeit war sehr anstrengend, aber deswegen so befriedigend, weil die Kollegen, und ich sage jetzt Kollegen - das war mir seinerzeit sehr schwergefallen, sie als Kollegen zu bezeichnen, bis ich dort war - ich schätze sie mittlerweile hoch, die haben sich ernsthaft und erfolgreich bemüht, unsere Vorstellungen zu übernehmen und das bewundernswert hinbekommen.
Und es war auch deshalb so erfolgreich und befriedigend, weil wir die Freiheit hatten, unsere Vorstellungen umzusetzen, und zwar ohne Zwänge und Eingriffe aller möglichen Oberbehörden und Vorgesetzten, die ja immer alles besser wissen. Diese Freiheit ermöglichte es uns erfolgreich zu sein .
Bleiben wir noch etwas beim Wiedervereinigungsthema. Man hat ja versucht, die Geschichte der DDR juristisch aufzuarbeiten. Nun gibt es aber ein ganz anderes Modell, mit einer solchen Vergangenheit umzugehen, nämlich die Wahrheitskommission in Südafrika. Opfer kamen zu Wort, Täter konnten amnestiert werden, wenn sie rückhaltlos gestanden.
Wäre es nicht auch besser gewesen, in Deutschland diesen Weg einzuschlagen?
Ja, wir müssen auch an Polen denken und andere Länder, also Länder, in denen nicht die westlichen Schwestern und Brüder gekommen sind, und die Macht übernommen haben. Länder also, die mit dem „vorhandenen Personal“ das Problem bewältigen mussten, und nicht ein anderes Rechtssystem mit neuem Personal übergestülpt bekamen.
Diese Länder mussten sich ja mit ihrer Vergangenheit anders auseinandersetzen.
Wir sind einen falschen Weg gegangen , allerdings angestossen durch die Bürgerrechtsbewegung der DDR, die gemeint hat, es sei ein Problem des Strafrechts gewesen.
Das war kein Problem des Strafrechts, es war ein Problem einer sich dazu bekennenden Diktatur, mit Entscheidungen, die von wenigen Ausnahmen, wie bestimmten Vorfällen an der innerdeutschen Grenze, mit juristischen Mitteln nicht zu beurteilen waren, was sich auch herausgestellt hat. Es ist ja kaum jemand verurteilt worden.
Es gab ja eine grosse Zahl von Informanten, die in westdeutschen Ministerien gesessen haben, und die mit Hilfe der Rosenholz- Datei teilweise enttarnt wurden. Sehen sie auf dieser Seite nicht einen erheblichen Nachholbedarf jedenfalls eine Diskrepanz in der Behandlung?.
Ja, das ist auch mein Eindruck. Man hat seinerzeit auch versucht, mich anzuwerben während einer meiner jährlichen Besuche in der DDR. Ich habe das damals abgelehnt.
Die Herren von der Staatssicherheit haben mich ausgelacht und gemeint “wenn Sie wüssten, wie viele Leute von Ihnen schon bei uns sind“.
Es ist einer der wenigen berechtigten Vorwürfe aller ehemaligen DDR-Bürger, wenn sie sagen, hier wird mit zweierlei Mass gemessen.
Kein Mensch hat sich um die Helfer der Staatssicherheit im Westen jemals ernsthaft gekümmert. Und ich weiss aus eigener Erfahrung dass sehr viele, im Gegensatz zu mir, sich haben anwerben lassen.
Kommen wir auf die Verhältnisse in Berlin zurück
Dort hat es ja in den Jahren Ihrer Tätigkeit einigen Ärger gegeben, der schliesslich dazu führte, dass man versucht hat, sie vorzeitig in den Ruhestand zu schicken, ein vergeblicher Versuch allerdings.
Können sie das aus ihrer Sicht noch einmal schildern, was zu diesem Zerwürfnis mit dem Berliner Senat geführt hat
Es gab in Berlin den verständlichen und ehrenwerten Versuch der Grünen, die Grosse Koalition zu Fall zu bringen. Und in diesem Zusammenhang hat man das von der Grossen Koaltion, nicht von der CDU alleine, verwirklichte Bankenprojekt in Berlin unter Beschuss genommen, und hat mit Strafanzeigen versucht, dem führenden CDU Mann, dem Herrn Landowsky, Straftaten nachzuweisen.
Die Staatsanwaltschaft hat sich redlich und ernsthaft bemüht, und hat, wenn ich das mal so sagen darf, „aufgerüstet,“ um die Fälle aufzuklären.
Aber es ging den politisch Interessierten nicht schnell genug . Man hat mir, der ich eigentlich mehr dafür bekannt war als Hardliner kräftig anklagen zu wollen, vorgeworfen, ich würde die Anklage sabotieren, was mir fernlag . Und man hat im politischen Untersuchungsausschuss verkündet, dass und wann Anklage erhoben würde.
Die damalige Justizsenatorin hat sich leider auch vor diesen Wagen spannen lassen und erklärt, sie werde persönlich dafür sorgen, dass jetzt und zwar sofort angeklagt wird.
Dem habe ich mich widersetzt, denn wir waren zu dieser Zeit nicht in der Lage, hinreichenden Tatverdacht schon zu belegen. Es darf in einem Rechtsstaat nicht sein, dass irgendwelche Parlamentarier, Minister oder SenatorInnen bekannt geben, wann und wer angeklagt wird. Das war selbst in der DDR so nicht üblich, die haben das etwas eleganter gemacht.
Und gegen diese Versuche, aus parteipolitischen Gründen die Staatsanwaltschaft in Berlin zu bestimmten Zeitpunken zu bestimmten Anklagen zu zwingen, habe ich mich gewehrt. Dies hat mir die Parteipolitik nicht verziehen.
Damit sind wir beim nächsten Punkt angekommen, nämlich der Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft wird ja vom Gesetz als objektive Behörde bezeichnet, einige meinen, sie sei die objektivste Behörde, aber de facto ist es ja so, dass von Seiten der Landesregierungen in diese Staatsanwaltschaften oftmals „hineinregiert“ wurde und wird, auch dass der Generalstaatsanwalt als „politischer Beamter“ jederzeit in den Ruhestand versetzt werden kann, sind keine guten Voraussetzungen, dass die Staatsanwaltschaft als Organ der Rechtspflege absolut unabhängig von irgendwelchen parteipolitischen Auseinandersetzungen ist und ihren Aufgaben nachkommen kann.
Auch das ist ein mindestens 40 Jahre altes Reformprojekt. Die Staatsanwaltschaft muss aus dem Weisungsrecht der Ministerien herausgeholt werden. Jetzt, nach so vielen Jahren, gibt es auch wieder erste Ansätze in Norddeutschland . Die Bevölkerung glaubt, und die Minister meinen, dementsprechend sich verhalten zu sollen, dass die Justizminister staatsanwaltschaftliche Funktionen haben. Die haben sie nicht.
Die Minister sind, wie ein früherer Berliner Justizsenator sagte , so eine Art von Betriebschef. Sie müssen die Resourcen bereitstellen, was sie unzulänglich tun, aber sie haben auf die Frage: Anklage ja oder nein, keinen parteipolitischen Einfluss zu nehmen.
Ein Fortschritt ist, dass inzwischen die Generalstaatsanwälte keine “politischen Beamten” mehr sind, was ihre Position stärkt, aber parteipoltische Einflussnahmen noch nicht ausschließt.
Die Richterschaft als Justiz ist nur so lange unabhängig, wie auch die Staatsanwaltschaft von parteipolitischen Weisungen frei ist.
Wenn etwas nicht angeklagt wird, kann es auch nicht von Richtern beurteilt werden. Wenn man zu Unrecht anklagt, ist das auch nicht das, was der Richter zu Recht auf seinem Tisch erwarten kann.
Wir müssen eine Lösung finden, welche die Gesetzesgebundenheit der Staatsanwaltschaft anders als bisher sicherstellt. Das kann man durch Gremien machen, das kann man auch durch richterliche Kontrolle wie beim Klageerzwingungsverfahren machen. Die Justizminister haben sich aber aus der juristischen Arbeit der Staatsanwaltschaft herauszuhalten.
Die Staatsanwaltschaften nennen sich scherzhafterweise manchmal Einstellungsbehörden statt Strafverfolgungsbehörden, weil mehr als 70 Prozent aller Verfahren eingestellt werden.
Ist die Staatsanwaltschaft nicht „Klassenjustiz“ insofern, als Tagediebe, Handtaschenräuber etc., wo der Sachverhalt meistens recht einfach aufzuklären ist, verfolgt, angeklagt und verurteilt werden, hingegegen Wirtschaftkriminelle, wo der Sachverhalt oftmals komplex ist, wo Sachverständige notwendig sind, weil den Staatsanwälten die erforderlichen Kenntnisse fehlen, oftmals frei ausgehen, weil die Staatsanwaltschaft kapituliert?
Ich selbst habe mich nach zwei Jahren allgemeiner Kriminalitätsbekämpfung auf das Wirtschaftsstrafrecht gestürzt, aus genau diesen von Ihnen genannten Gründen. Es gab aus vielen soziologischen Untersuchungen, beispielsweise aus den USA, die Erkenntnis, dass vornehmlich der Kleinkriminelle verfolgt wird. Boshafterweise könnte man sagen: Das entspricht dem, was die Staatsanwälte können.
Wenn es kompliziert wird, wozu die organisierte Kriminalität im allgemeinen aber insbesondere die Wirtschaftskriminalität gehört, war jedoch die Hoffnung, dass wir auch da effektiver werden können.
Man hatte zuerst in Nordrhein-Westfalen Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften gegründet, inzwischen gibt es überall schwerpunktmässig arbeitende Wirtschafts-Staatsanwälte.
Jedoch, wir sind, aus meiner Sicht gesehen, letztlich gescheitert. Die Justiz hat nicht die finanziellen Resourcen gehabt, um genügend gute Fachleute einzustellen. Und neben den Fachleuten muss die Justiz Staatsanwälte haben, die den energischen Willen haben, Straftaten zu verfolgen. Das ist nichts Anstössiges, wie manche „fortschrittliche“ Menschen meinen.
Verfolgungswillen zu haben, und sich auch wehzutun beim Arbeiten, und nicht nachzugeben, ohne diesen starken Willen wird man bei schwierigen Komplexen keinen Erfolg haben.
Und daran fehlt es neben der Masse und den Resourcen. Es ist nicht so sehr die fehlende wirtschaftliche Ausbildung der Staatsanwälte, es ist der Wille, zu verfolgen und natürlich die Möglichkeiten der Unterstützung durch die Polizei und durch Wirtschaftsfachleute, die uns nach wie vor weitgehend fehlen.
Nun haben im anglo-amerikansichen Rechtsssystem Staatsanwaltschaft und Polizei einen anderen Namen: Law Enforcement Agencies, Behörden, die das Recht durchsetzen, zur Geltung bringen sollen. Entspricht dieser Nennung nicht auch eine unterschiedliche Denk- und Handlungweise?.
Das würde ich nicht so sehen
Die englische Bezeichnung gefällt mir, die hätte ich aber auch auf meine Arbeit und die meiner Mitarbeiter angewendet sehen wollen. Der Staatsanwalt, flapsig gesagt, als Rächer aller Witwen und Waisen und aller andereren Geschädigten.
Der Staatsanwalt ist eigentlich ein Opferanwalt. Er soll denen, die den Mächtigen zum Opfer gefallen sind, ob durch Gewaltttäter oder durch Mächtige in Wirtschaft und Politik, denen soll der Staatsanwalt helfen. Das war die Idee und da muss man das Recht durchsetzen und deswegen werden Verteidiger und Staatsanwälte dieselbe Sache immer von verschiedenen Seiten betrachten, und betrachten müssen, aber Strafverfolgung ist nicht etwas Unanständiges sondern zwingend Nötiges.
Kommen wir auf die sich verändernde Kriminalität zu sprechen. Nun haben wir ja eine Finanz-und Wirtschaftskrise , die zum Teil durch verantwortungsloses Verhalten sprich: Zockerei ausgelöst wurde, mit enormen Schäden für die Wirtschaft mit konsekutiver Arbeitslosigkeit. Mit Schäden, die letztlich von der gesamten Gesellschaft getragen werden müssen, die aber, sofern man das jetzt beurteilen kann, meist nicht als strafbares Verhalten eingestuft werden können, auf der anderen Seite aber Tagediebe im Rückfall zu erheblichen Strafen verurteilt werden.
Führt dieses diskrepante Vorgehen, das aber den Strafgesetzen entspricht, nicht zu einer massiven Erschütterung des Vertrauens in Justiz und Staat?
Doch, ich sehe das auch so, die Leute sind verzweifelt und geraten neben Verzweiflung in Zorn, wenn sie sehen, je höher man sitzt, und je weiter man agieren kann, und je mehr Geld man hat, umso mehr wird man von der „Eierdieb-Verfolgung“ der Staatsanwaltschaft verschont.
Man muss nur sich darüber im klaren sein, dass das Problem sich durch nationale Staatsanwaltschaften allein nicht mehr lösen lässt.
Das ist ein internationales Problem und internationales Ueberwachungsproblem. Ich bin sehr dafür, dass man nicht versucht, dies mit örtlichen Staatsanwaltschaften auf dem Lande zu verfolgen, sondern dass man die ja vorhandenen Kontrollmöglichkeiten, die nicht genutzt wurden, von denselben Staaten, die jetzt auf die Banker schimpfen, dass man diese Ueberwachungs- und Kontrollmöglichkeiten ausnutzt und wenn dann jemand dagegen verstösst, dann kann ihn auch die Staatsanwaltschaft verfolgen.
Wenn wir einmal zurückblicken in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts, in einer Zeit, in der Sie ihre juristische Ausbildung hinter sich gebracht haben, da gab es ja eine relativ überschaubare Kriminalität.
Ich erinnere mich beispielsweise an Leute wie den Herrn Schuessler in Frankfurt, seines Zeichens Hehler und Inhaber des berüchtigten Lokals „Sonne von Mexiko“. Ein Ganove „mit Herz“. Zu seiner Beerdigung 1967 kamen 1000 polizeibekannte Ganoven aus ganz Deutschland angereist, die Polizei kannte sie und sie kannten die Polizei, oder „die Schmiere“ , wie sie sie nannten.Wir haben es aber heute mit bandenmässigen Zusammenfassungen von Kriminellen aus aller Herren Länder zu tun, mit Mafia-Strukturen.
Jürgen Roth hat gerade ein Buch über die massive Präsenz der italienischen Mafia in Deutschland veröffentlicht. Sind sowohl die Polizei, als auch die Staatsanwaltschaft gegenüber dieser organisierten Kriminalität nicht macht- und hilflos?
Ja, boshaft gesagt, wir leben in einer Parallelwelt. Diese Leute nehmen die Staatsanwaltschaft ja gar nicht wahr, geschweige denn ernst, weil die Welt der deutschen Staatsanwälte und die Welt dieser Kriminellen nichts miteinander zu tun haben. Die Problematik liegt auch hier in der Internationalität, die Köpfe sitzen alle nicht in Deutschland, an die Köpfe kommen wir nicht heran, weil wir nach wie vor, allem Gerede zum Trotz, rein national agieren. Und wenn die Damen und Herren so klug sind, Leichen auf den Strassen zu vermeiden, was ihnen fast immer gelingt, dann wissen wir von nichts.
Wie könnte man denn dieses Problem überhaupt in den Griff bekommen? Durch Verstärkung der Polizei oder durch Einschleusen von Undercover Agents? Sie haben während Ihrer Dienstzeit es ja in Berlin mit derartigen mafiösen Strukturen zu tun gehabt. Ich erinnere an die Zigarettenmafia. Sehen Sie das nicht als gewaltige Herausforderung an?
Ja, aber wir sind machtlos zur Zeit. Wir haben in Berlin eine ganze Reihe von sehr engagierten Strafverfolgern im Bereich der organisierten Kriminalität gehabt, insbesondere auch im Bereich Menschenhandel und Rauschgift natürlich. Das Problem ist, wie bei einer Parallelwelt, die Polizei hat keine Kontakte zu diesen Gruppen und Sie können in ausländische und damit fremdsprachliche kriminelle Vereinigungen keine Udercover Agents einschleusen, Sie können dort keinen Berliner oder Bayern hinschicken.
Die Leute aus diesen Gruppen selbst abzuwerben, das erfordert derartige finanzielle Mittel und auch ein Umdenken in unserer Mentalität, darauf sind wir gar nicht eingestellt.
Also mit anderen Worten, es fehlt auch der politische Wille, dieser Kriminalität substantiell zu Leibe zu rücken?
Die Politik nimmt dieses Problem aus meiner Sicht nicht recht zur Kenntnis
Aber die Leichen sind doch da.
Ja, aber vergleichsweise zum Ausmass dieser Kriminalität relativ selten. Und wenn sie da sind, dann wird auch ermittelt, und dann schütteln die italienischen Strafverfolger den Kopf über die tumben und einfältigen Deutschen, und nehmen in Italien den einen oder anderen fest, aber das Ausmass dieser organisierten Kriminalität in Deutschland steht aus meiner Sicht in keinem Verhältnis zu den Auffälligkeiten, sprich Leichen, oder anderen Vorfällen.
Kommen wir auf ein relativ aktuelles Thema zu sprechen: Mögliches strafbares Verhalten deutscher Soldaten in Afghanistan, wie Folter, Tötung von unbeteiligten Zivilisten etc
Wie lässt sich denn ein derartiges Verhalten strafverfolgungsrechtlich in Deutschland überhaupt in den Griff bekommen?
Na jedenfalls nicht so, wie es jetzt versucht wird, dass die Staatsanwaltschaft Potsdam, weil sie nun per Zufall neben dem Einsatzkommando für Afghanistan sitzt,und dann andere deutsche Staatsanwaltschaften mit deutschem Strafrecht angebliche oder wirkliche Notwehr in einjährigen Ermittlungen in Afghanistan klären müssen.
Wenn man einen Guerillakrieg führt, das aber nicht so nennen darf, dann muss man nach Regeln des Guerillakrieges arbeiten, die sind vielleicht etwas anders, als mancher sich das vorgestellt hat. Oder man muss es lassen. Man muss nicht die alte Militärgerichtsbarkeit wieder einführen, aber man muss spezialisierte Staatsanwälte haben, die wissen, was überhaupt dort geschieht. Man muss natürlich Einsatzregeln haben, die nicht so unrealistisch sind, wie sie es bisher waren.
Wir haben kein Kriegsstrafgesetzbuch, und nach unserer Vergangenheit wollen wir auch keins, ich auch nicht. Man muss realistischerweise aber die Vorstellungen, die man für Polizeieinsätze zum Glück hatte, ändern, man kann diese nicht auf Kriegssituationen anwenden.
Kommen wir noch einmal auf Ihre Zeit in Berlin zurück. Da sind natürlich einige Äusserungen ihrerseits gefallen, die ich in meinem Vorspann erwähnte. Vielleicht nehmen Sie die Gelegenheit wahr, um das in der einen oder anderen Weise klarzustellen.
Ja unglücklich bin ich über diese Äusserungen auch, und wenn ich sie läse, und mich nicht kennen würde, wäre ich erschrocken.
Ich kann dazu nur sagen, was jeder sagt, wenn man eine mehrstündige Unterhaltung mit einem Journalisten führt, und versucht, dem Journalisten seine Ansichten wenigstens klarzumachen, der Journalist aber sich auf mein Anliegen nicht einlässt: Zwei bis drei Formulierungen, die ich nicht hätte machen sollen, die in der Erregung des Versuchs, den anderen zu überzeugen, gemacht wurden, bleiben aus einem mehrstündigen Gespräch schliesslich übrig.
Ganz fair ist das auch nicht.
Seien Sie sicher: Ein Rassist bin ich ganz gewiss nicht.
Insbesondere nach Kapitalverbrechen, aber nicht nur dann, werden reflexhaft Forderungen in der Bevölkerung nach härterer Bestrafung der Täter bis hin zur Todesstrafe laut.
Meinen Sie nicht, dass ein Generalstaatsanwalt sich mit populistischen Forderungen zurückhalten sollte?
Nein, das sehe ich ganz anders. Wenn wir den falschen Forderungen in der Bevölkerung nach Todesstrafe, nach möglichst harter unbeugsamer Bestrafung von Bagatelldelikten vernünftig begegnen wollen, , dann muss die Bevölkerung den Eindruck haben, dass an der Spitze der Staatsanwaltschaft ein durchaus verfolgungswilliger, notfalls harter, Staatsanwalt steht. Nur solchen Persönlichkeiten wird man glauben, dass es falsch ist, beispielsweise die Todesstrafe zu fordern.
Wenn Sie da ein sogenanntes „Weichei“ hinstellen, der vor Mitleid mit allem zerfliesst und den Menschen nicht den Eindruck vermitteln kann, dass es nötig ist, dass man als Staatsanwalt konsequent tätig wird, dann werden sie solche falschen Forderungen aus der Bevölkerung nicht vermindern, sondern verstärken.
Seinerzeit hiess es in der Berliner Presse , dass sie das ramponierte Vertrauen der Bevölkerung in die Berliner Justiz zu verantworten haben
Ich halte das für dummes Zeug und Verleumdung. Mir ist jedenfalls aus der Bevölkerung eine solche Reaktion nie bekannt geworden. Die Bevölkerung war mit mir offenbar durchaus zufrieden. Dass einige Politiker und mit denen zusammenarbeitende Journalisten das nicht wahrhaben wollen, ist betrüblich, kann mich aber nicht erschüttern
Kommen wir noch auf den Strafvollzug zu sprechen
Das ist ja nun die Massnahme der Gesellschaft gegen den verurteilten Straftäter und da häufen sich Berichte über Gewaltausbrüche der Insassen gegeneinander: Von Vergewaltigung bis zum Tötungsdelikt, insbesondere, aber nicht nur, in Jugendstrafanstalten. Was sollte man tun. Sie haben ja eigene Erfahrung aus ihrer Zeit als Referent im hessischen Justizministerium?.
Ja, ich war mal Sicherheitsreferent für die hessischen Justizvollzugsanstalten. Wir haben ein Werteproblem, wir haben ein Erziehungsproblem. Wir müssen versuchen, die Gefangenen zu erziehen, Das ist schwer, weil bis dato bei dem einzelnen Häftling alle Erziehungsversuche ja schon gescheitert sind, sonst wären sie nicht inhaftiert.
Wir müssen aber ein Menschenbild haben, zu dem wir hinerziehen wollen, und das ist weitgehend verloren gegangen. Das Personal wurde abgebaut, das Erziehungspersonal, ob in Uniform oder ohne, alle müssen dort erziehen wollen, aber das Personal hat sich weitgehend zurückgezogen.
Die Zellentüren sind offen, die Gefangenen können sich in den Anstalten oft praktisch frei bewegen und niemand ist mehr da, der dem Missbrauch der Gefangenen untereinander Grenzen setzt. Das ist jetzt etwas übertrieben, aber das ist die Tendenz. Und das ist das Gegenteil von Erziehung. Wir kommen jetzt dahin, was man immer gesagt hat, dass man in den Anstalten erst verdorben wird.
Die Gesellschaft hat ihren Erziehungsauftrag abgemeldet.
Der freie Vollzug, also der offene Vollzug mit Freigang tagsüber, wird zunehmend eingeschränkt. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Die ist falsch und hochgefährlich. Wir müssen die Leute während einer gewissen Anfangszeit, das ist unterschiedlich, einem geschlossenen Vollzug unterwerfen, um ein Korsett des Tagesablaufs wieder in die Leute zu bekommen, sie wieder an gewisse Abläufe zu gewöhnen.
Dann muss man sie trainieren, in der Freiheit, die ja nach ganz anderen Regeln abläuft, und zwar mit Versuchungen und Belastungen, zu gewöhnen. Das braucht hochqualifiziertes und engagiertes Personal und viel Geld. Beides ist nicht ausreichend da.
Nun ist es ja bei den Jugendlichen, bleiben wir noch einmal bei dem Thema, dass sie nach Verbüssung der Strafe wieder in ihre alte Umgebung zurückkommen, die ja mit ursächlich für die Straffälligkeit war. Sehen sie denn mit den Entlassungspapieren die Aufgabe der Gesellschaft als erledigt an?
Nein der Strafvollzug kann ja nur ein verzweifelter Versuch sein, vorübergehend die Menschen mit einer anderen Lebensform bekannt zu machen. Oft können sie sich das ja gar nicht leisten, wenn sie in ihr Milieu zurückkehren, das zu praktizieren, was sie gelernt haben, das überleben sie da nicht.
Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das fängt im Kindergarten an und geht über die Jugendämter weiter.
Der Strafvollzug kann, entgegen der Auffassung vieler, nur eine vorübergehende Hilfsmassnahme sein abgesehen von denjenigen, die es ja auch gibt, die man auf Dauer wegsperren muss, weil sie nicht behandelbar sind.
In den letzten Monaten haben Sexualverbrechen an Kindern Schlagzeilen gemacht. Neben den Forderungen nach härterer Bestrafung stellt sich dann doch in einigen Fällen heraus, dass gutachterlich nach einer früheren Straftat eine positive Prognose abgegeben wurde, eine falsche Prognose. Wie sehen Sie das Problem der gutachterlichen Beurteilung dieser Täter?
Das Gutachterproblem ist ein altes ungelöstes Problem, und Gutachter geben ausserhalb des Gerichtssaals, wenn sie ehrlich sind, auch zu, dass sie in vielen Fällen auch nicht mehr wissen als der Laie. Wir wissen nicht, wie die Menschen sich entwickeln bis zur Ersttat , weil wir sie da ja noch nicht kennen, und wir wissen oft nicht, auch die Gutachter nicht, wie sie sich danach entwickeln werden. Da ist ein gewisses Restrisiko nicht zu vermeiden, und die Gesellschaft macht sich da falsche Hoffnungen.
Wir müssen uns darum bemühen, wieder in der Gesellschaft nicht soziale Kontrolle, aber soziale Kontakte bekommen, die verhindern, dass Kinder weggefangen werden können.
Es mag ja sein dass die Zahl der Verbrechen an Kindern zurückgegangen sind, aber auch ich lebe in der Vorstellung, wenn ich kleine Kinder hätte, dass ich die nicht mehr einfach auf der Strasse spielen lassen könnte..
Das hält eine Gesellschaft auf Dauer nicht durch.Da müssen wir wieder zu Nachbarschaftsverhältnissen kommen, und zu Lebensverhältnissen, die uns die Möglichkeit geben, die Kinder nicht zu überwachen, aber doch so viel Kontakt zu ihnen zu haben, dass sie nicht einfach verschwinden können.
Meinen Sie, dass eine „Zero- tolerance- Politik“ , wie sie einerzeit der damalige Generalstaatsanwalt Giuliano in New York durchgesetzt hat, der richtige Weg ist? Oder sollte nicht vielmehr Ursachenforschung betrieben werden und Bedingungen, die zu Kriminalität führen, zu beseitigen?
Das ist ein Gegensatz, den es aus meiner Sicht so nicht gibt.
Es kommt auf die Delikte an . Ich bin der Meinung, dass man bei Beschmierungen, Verschandelungen und Schwarzfahren, das man ständig betreibt, weil man ja sagt, die Bahn fährt trotzdem, andere sind so doof, das zu bezahlen, dass man in gewissen Bereichen Null-Toleranz üben sollte, damit die Jungen und Mädchen gleich merken, dass derartiges Verhalten nicht hingenommen wird.
Eine andere Frage ist, wo die Ursache dafür liegt. Das ist aber nicht Aufgabe der Justiz, das ist Aufgabe derjenigen, die erziehen. Aber immer zu sagen „sehen wir darüber hinweg“ hat zu den Zuständen in New York geführt, die mit Erfolg beseitigt wurden.
Ich sehe nicht ein, dass es falsch sein soll, bei bestimmten Delikten von Anfang an zu sagen: Wir als Gesellschaft nehmen das nicht hin. Wie die Sanktionen aussehen sollen, das muss ja nicht Gefängnis sein, das kann ja auch ein belehrendes Gespräch sein, ist eine andere Frage. In bestimmten Bereichen bin auch ich für Null-Toleranz
Eine Kultur der Kostenlosigkeit wurde durch das Internet geschaffen. Kann sich eine derartige „Kultur“ nicht in andere gesellschaftliche Bereiche auch ausbreiten mit den entsprechenden Folgen?
Sicherlich, das ist ein ganz grosses Problem. So wunderbar es ist, dass man heute Möglichkeiten hat, von denen man vor ein paar Jahren noch nicht einmal zu träumen wagte, so müssen bestimmte Kulturgüter , dazu gehört auch das Urheberrecht, verteidigt werden.
Und wir können nicht zulassen, dass jeder meint, er habe Anspruch auf „Alles zum Nulltarif“ .
Die Gesellschaft wird, mit diesen Entwicklungen konfrontiert, ganz erheblich umdenken müssen.
Nun ist es ja so, dass im Internet eine eigene Kriminalität sich ausgebreitet hat, genannt sei die Kinderpornografie. Sehen Sie, dass die Staatsanwaltschaften dieser Herausforderung gewachsen sind? Kann die Antwort darauf nur sein, dass man eine verschärfte Zensur herbeiführt wobei dann noch unklar ist, wer diese Zensur eigentlich ausüben soll?.
Ich halte das für völlig hoffnungslos. Erstens: Zensur ist verfassungswidrig. Zweitens: Es ist ein internationales Problem, ich glaube nicht, dass man das mit nationalen Gesetzen in den Griff bekommt.Es ist eine Frage der Erziehung. Es gab früher die Vorstellung, dass man bestimmte Dinge nicht tut, die Vorstellungen über das, was man nicht tut, mögen sich ändern, aber dass man keine kinderpornografischen Inhalte auf seinen Computer lädt, sollte eigentlich jeder wissen und das kann man auch mit Erziehung vermitteln.
Kommen wir noch einmal zurück auf den Strafprozess, genauer gesagt auf die sogenannten Absprachen prozessual oder vorprozessual salopp ausgedrückt „Strafmass-Basarverhandlungen“ oder "Kungelei". Auch in dem Susanne Klatten-Gigolo Prozess bestand ja der Verdacht, dass derartige Verhandlungen der Prozessbeteiligten stattgefunden hatten . Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Es ist für mich das Ende des geordneten Strafverfahrens. Die Regeln, die der Bundesgerichtshof (BGH)aufgestellt hatte, wurden nicht eingehalten, Revisionen wurden vom BGH dennoch verworfen .
Die Errungenschaft der französischen Revolution, die Oeffentlichkeit der Hauptverhandlung, die Teilnahme der Bürger an der Strafjustiz, ist beerdigt worden mit der Behauptung, die Justiz sei überlastet.
Die Überlastung muss man überprüfen und ggf. müssen eben mehr Richter eingestellt werden.
Unter dem Argument „wir schaffen es nicht“ das geordnete Strafverfahren, das wir bisher hatten, abzuschaffen ist eine Katastrophe.
Wird es also in der Zukunft vermehrt „faule Deals“ geben?
Es wird in der Zukunft wohl in schwierigen Verfahren nur noch „Deals“ geben. Wie faul sie sind, hängt vom Charakter der Beteiligten ab, aber Sie können davon ausgehen, dass das Verfolgen der Wahrheitsfindung bei erheblichen Straftaten oft nicht mehr gewährleistet ist.
Würde dies in letzter Konsequenz bedeuten, dass die seinerzeitige, in den 60er Jahren vollzogene Abschaffung des Geschworenengerichts in der Form, dass die Laienrichter die Mehrheit haben und über schuldig oder unschuldig nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung entscheiden, und das es ja nach wie vor in anderen Ländern gibt, ein Fehler gewesen ist?
Das war schade, weil die Vorstellung der Bürger, an der Urteilsfindung massgeblich beteiligt zu sein, ein ganz wesentlicher Grund für das Vertrauen der Bürger in die Justiz war, und deshalb war das wohl der falsche Weg.
Vielen Dank für dieses Interview
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Dr.Hans-Jürgen Karge
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- Er war umstritten. Die damalige Berliner Justizsenatorin Karin Schubert wollte ihn loswerden und schickte ihn in den vorzeitigen Ruhestand. Er klagte dagegen, die Berliner Verwaltungsgerichte versetzten der SPD-Senatorin Karin Schubert eine juristische Ohrfeige, er blieb im Amt.
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- Er forderte härtere Strafen und schnellere Verhaftungen.
- Ihm wurde Führungsstil nach Gutsherrenart in der Presse vorgeworfen.
- Er klärte den Schiedsrichterskandal auf
- Er führte die Ermittlungen gegen Michel Friedmann, den Medienstar und Multifunktionär, der schliesslich wegen Drogendelikten verurteilt wurde.
- Er wehrte sich vehement gegen politische Einflussnahmen auf Strafverfahren insbesondere im Zusammenhang mit dem Berliner Bankenskandal..
- Er trat 1965 in die SPD ein, und nach 43 Jahren Mitgliedschaft im vergangenen Jahr nach der Ypsilanti-Affäre wieder aus.
- Er war mein Ausbilder während meiner Referendarzeit bei der Staatsanwaltschaft in Darmstadt im Jahre 1974.
- Der ZEIT Herausgeber Michael Naumann bezeichnete ihn in einer Talkshow mehrfach als „durchgeknallten Staatsanwalt“ was Naumann eine Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen Beleidigung einbrachte. Im vergangenen Monat hob das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe diese Verurteilung allerdings wieder auf.
Es handelt sich um Dr. Hans-Jürgen Karge, den ich nach 34 Jahren nun als „Unruheständler", mittlerweile als Rechtsanwalt zugelassen, wiedertraf und für ein Interview gewinnen konnte.
Dieses Interview ist notwendigerweise lang, weil es nahezu alle aktuellen Probleme der heutigen Strafjustiz behandelt, aus der Sicht eines ehemaligen Generalstaatsanwalts, der nach wie vor kein Blatt vor den Mund nimmt, und deshalb haben wir es nicht gekürzt oder in Teile zerlegt.
Herr Karge, Sie sind mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, trotz Ruhestands, kürzlich wieder in die Schlagzeilen gelangt. Wie haben Sie diese Entscheidung aufgenommen?
Ich halte die Entscheidung für falsch, weil der Amtsträger, Leiter der Staatsanwaltschaft, behandelt wird, wie ein Politiker im Wahlkampf. Der Leiter einer Staatsanwaltschaft in Deutschland soll aber nicht politischer Beamter sein, sondern sachbezogen ermitteln und dann muss er sich auch nicht so behandeln lassen, wie das im Wahlkampf unter Politikern so üblich ist.
Sie sind ja jemand, der gerne sich pointiert ausdrückt und auch vor kräftigen Formulierungen nicht zurückschreckt, wird man da nicht automatisch an den seinerzeitigen Schmid-Spiegel Fall des Bundesverfassungsgerichts erinnert, wonach auf groben Klotz ein grober Keil gehört?
Ja, aber auch das sind politische Auseinandersetzungen. Die Äusserung von Herrn Naumann, den ich persönlich nicht kenne und der mich nicht kennt, bezog sich auf Einzelheiten eines Strafermittlungsverfahrens (gegen Michel Friedmann, der Verf.), und da müssen andere Regeln gelten. Die Staatsanwälte müssen vor irgendwelchen Verleumdungen geschützt werden.
Was war denn eigentlich nach Ihrer Auffassung der Hintergrund gewesen für die Äusserung des Herrn Naumann, der Sie als „durchgeknallten Staatsanwalt“ bezeichnete bzw. verleumdete?
Die Staatsanwaltschaft in Berlin hatte das Problem, einen Prominenten der deutschen Medienlandschaft zunächst als Zeugen zu haben und dann festzustellen, dass der Herr auch Rauschgift genommen hatte, sodass er zum Beschuldigten wurde. Dieser Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz , der dann ja auch gerichtlich bestätigt wurde, führte zu Durchsuchungen, und hat bei Bundestagsabgeordneten und vielen Journalisten grosses Interesse erregt, weil man wissen wollte, wer ausserdem noch sich dieser ukrainischen Damen bedient hatte.
Es waren ja wohl gerade auch die Art und Weise der Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten, ich glaube es war seinerzeit durch die GSG9, die Ihnen den Ruf eintrug, ein besonders aggressiver Hardliner zu sein. Wie stehen Sie denn heute dazu?
Also Hardliner, da würde ich mich gar nicht dagegen wehren, aber das hat mit diesem Verfahren überhaupt nichts zu tun. Ein Berliner Kollege ist nach Frankfurt gefahren und hat dort durchsucht, ohne dass ich dabei war, oder Einzelheiten festgelegt habe.
Es hatte – bis zu den Beschimpfungen des Herrn Naumann – auch keinerlei Auffälligkeiten gegeben, weder von dem Beschuldigten, noch von seinem Verteidiger. Die Aufregung beruhte ausschliesslich darauf, dass wir uns getraut haben, bei diesem Prominenten mal nachzugucken.
Sie sind nun seit drei Jahren Pensionär und mittlerweile Rechtsanwalt geworden . Wie sehen Sie denn eigentlich ihre frühere Tätigkeit aus der Sicht desjenigen, der, ich sag das mal salopp, „auf die andere Seite der Barrikade“ gewechselt ist?
Ich habe mich auf der früheren Barrikadenseite (als Staatsanwalt der Verf) wohler gefühlt , weil es, wie ich jetzt feststelle, sehr schwer ist, mit Staatsanwaltschaften und Behörden „von aussen“ zu kommunizieren . Die Kommunikation wird schlicht verweigert und man steht mit seinen Mandanten ziemlich einsam vor hohen Mauern.
Wäre es nicht sinnvoller, wenn man als Staatsanwälte z.B. berufserfahrene Rechtsanwälte berufen würde, statt Berufsanfänger mit Prädikatsexamina?
Das halte ich seit 40 Jahren für zwingend nötig. Das ist ein alter Reformvorschlag aus den Jahren 1968ff. Derartige Reformforderungen sind in Deutschland auch nicht ansatzweise umgesetzt worden. Wenn man mit Juristen aus dem anglo-amerikanischen Bereich spricht, die 28 jährige Berufsanfänger z.B. als Richter hier vorfinden, dann verstehen diese Leute die Welt nicht mehr.
Man muss eigentlich die Festungen der Justiz von aussen erst einmal kennengelernt haben, um dann, wenn man drinnen ist, es besser zu machen.
Kommen wir noch einmal auf Ihre Karriere zurück. Berlin war ja der Höhepunkt und Abschluss einer langen Karriere als Staatsanwalt, zunächst in Darmstadt, dann als Referent im hessischen Justizministerium, dort zuständig für die Sicherheit in den Justizvollzugsanstalten, dann abgeordnet zur Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, dann betraut mit dem Aufbau einer Staatsanwaltschaft in Thüringen, später als leitender Staatsanwalt in Marburg und schliesslich Berlin.
Aus Ihrer Sicht, was war Ihre beste Dienstzeit?
Die am meisten befriedigende Zeit war der Aufbau einer Staatsanwaltschaft in Thüringen, wo wir mit SED-Staatsanwälten, die ihre Parteibücher zurückgegeben hatten, eine Staatsanwaltschaft im westlichen Sinne wiederaufgebaut haben. Die Staatsanwaltschaften nach westlicher Prägung wurden ja kurz nach Gründung der DDR abgeschafft.
Die von mir ausgeübte Tätigkeit war sehr anstrengend, aber deswegen so befriedigend, weil die Kollegen, und ich sage jetzt Kollegen - das war mir seinerzeit sehr schwergefallen, sie als Kollegen zu bezeichnen, bis ich dort war - ich schätze sie mittlerweile hoch, die haben sich ernsthaft und erfolgreich bemüht, unsere Vorstellungen zu übernehmen und das bewundernswert hinbekommen.
Und es war auch deshalb so erfolgreich und befriedigend, weil wir die Freiheit hatten, unsere Vorstellungen umzusetzen, und zwar ohne Zwänge und Eingriffe aller möglichen Oberbehörden und Vorgesetzten, die ja immer alles besser wissen. Diese Freiheit ermöglichte es uns erfolgreich zu sein .
Bleiben wir noch etwas beim Wiedervereinigungsthema. Man hat ja versucht, die Geschichte der DDR juristisch aufzuarbeiten. Nun gibt es aber ein ganz anderes Modell, mit einer solchen Vergangenheit umzugehen, nämlich die Wahrheitskommission in Südafrika. Opfer kamen zu Wort, Täter konnten amnestiert werden, wenn sie rückhaltlos gestanden.
Wäre es nicht auch besser gewesen, in Deutschland diesen Weg einzuschlagen?
Ja, wir müssen auch an Polen denken und andere Länder, also Länder, in denen nicht die westlichen Schwestern und Brüder gekommen sind, und die Macht übernommen haben. Länder also, die mit dem „vorhandenen Personal“ das Problem bewältigen mussten, und nicht ein anderes Rechtssystem mit neuem Personal übergestülpt bekamen.
Diese Länder mussten sich ja mit ihrer Vergangenheit anders auseinandersetzen.
Wir sind einen falschen Weg gegangen , allerdings angestossen durch die Bürgerrechtsbewegung der DDR, die gemeint hat, es sei ein Problem des Strafrechts gewesen.
Das war kein Problem des Strafrechts, es war ein Problem einer sich dazu bekennenden Diktatur, mit Entscheidungen, die von wenigen Ausnahmen, wie bestimmten Vorfällen an der innerdeutschen Grenze, mit juristischen Mitteln nicht zu beurteilen waren, was sich auch herausgestellt hat. Es ist ja kaum jemand verurteilt worden.
Es gab ja eine grosse Zahl von Informanten, die in westdeutschen Ministerien gesessen haben, und die mit Hilfe der Rosenholz- Datei teilweise enttarnt wurden. Sehen sie auf dieser Seite nicht einen erheblichen Nachholbedarf jedenfalls eine Diskrepanz in der Behandlung?.
Ja, das ist auch mein Eindruck. Man hat seinerzeit auch versucht, mich anzuwerben während einer meiner jährlichen Besuche in der DDR. Ich habe das damals abgelehnt.
Die Herren von der Staatssicherheit haben mich ausgelacht und gemeint “wenn Sie wüssten, wie viele Leute von Ihnen schon bei uns sind“.
Es ist einer der wenigen berechtigten Vorwürfe aller ehemaligen DDR-Bürger, wenn sie sagen, hier wird mit zweierlei Mass gemessen.
Kein Mensch hat sich um die Helfer der Staatssicherheit im Westen jemals ernsthaft gekümmert. Und ich weiss aus eigener Erfahrung dass sehr viele, im Gegensatz zu mir, sich haben anwerben lassen.
Kommen wir auf die Verhältnisse in Berlin zurück
Dort hat es ja in den Jahren Ihrer Tätigkeit einigen Ärger gegeben, der schliesslich dazu führte, dass man versucht hat, sie vorzeitig in den Ruhestand zu schicken, ein vergeblicher Versuch allerdings.
Können sie das aus ihrer Sicht noch einmal schildern, was zu diesem Zerwürfnis mit dem Berliner Senat geführt hat
Es gab in Berlin den verständlichen und ehrenwerten Versuch der Grünen, die Grosse Koalition zu Fall zu bringen. Und in diesem Zusammenhang hat man das von der Grossen Koaltion, nicht von der CDU alleine, verwirklichte Bankenprojekt in Berlin unter Beschuss genommen, und hat mit Strafanzeigen versucht, dem führenden CDU Mann, dem Herrn Landowsky, Straftaten nachzuweisen.
Die Staatsanwaltschaft hat sich redlich und ernsthaft bemüht, und hat, wenn ich das mal so sagen darf, „aufgerüstet,“ um die Fälle aufzuklären.
Aber es ging den politisch Interessierten nicht schnell genug . Man hat mir, der ich eigentlich mehr dafür bekannt war als Hardliner kräftig anklagen zu wollen, vorgeworfen, ich würde die Anklage sabotieren, was mir fernlag . Und man hat im politischen Untersuchungsausschuss verkündet, dass und wann Anklage erhoben würde.
Die damalige Justizsenatorin hat sich leider auch vor diesen Wagen spannen lassen und erklärt, sie werde persönlich dafür sorgen, dass jetzt und zwar sofort angeklagt wird.
Dem habe ich mich widersetzt, denn wir waren zu dieser Zeit nicht in der Lage, hinreichenden Tatverdacht schon zu belegen. Es darf in einem Rechtsstaat nicht sein, dass irgendwelche Parlamentarier, Minister oder SenatorInnen bekannt geben, wann und wer angeklagt wird. Das war selbst in der DDR so nicht üblich, die haben das etwas eleganter gemacht.
Und gegen diese Versuche, aus parteipolitischen Gründen die Staatsanwaltschaft in Berlin zu bestimmten Zeitpunken zu bestimmten Anklagen zu zwingen, habe ich mich gewehrt. Dies hat mir die Parteipolitik nicht verziehen.
Damit sind wir beim nächsten Punkt angekommen, nämlich der Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft wird ja vom Gesetz als objektive Behörde bezeichnet, einige meinen, sie sei die objektivste Behörde, aber de facto ist es ja so, dass von Seiten der Landesregierungen in diese Staatsanwaltschaften oftmals „hineinregiert“ wurde und wird, auch dass der Generalstaatsanwalt als „politischer Beamter“ jederzeit in den Ruhestand versetzt werden kann, sind keine guten Voraussetzungen, dass die Staatsanwaltschaft als Organ der Rechtspflege absolut unabhängig von irgendwelchen parteipolitischen Auseinandersetzungen ist und ihren Aufgaben nachkommen kann.
Auch das ist ein mindestens 40 Jahre altes Reformprojekt. Die Staatsanwaltschaft muss aus dem Weisungsrecht der Ministerien herausgeholt werden. Jetzt, nach so vielen Jahren, gibt es auch wieder erste Ansätze in Norddeutschland . Die Bevölkerung glaubt, und die Minister meinen, dementsprechend sich verhalten zu sollen, dass die Justizminister staatsanwaltschaftliche Funktionen haben. Die haben sie nicht.
Die Minister sind, wie ein früherer Berliner Justizsenator sagte , so eine Art von Betriebschef. Sie müssen die Resourcen bereitstellen, was sie unzulänglich tun, aber sie haben auf die Frage: Anklage ja oder nein, keinen parteipolitischen Einfluss zu nehmen.
Ein Fortschritt ist, dass inzwischen die Generalstaatsanwälte keine “politischen Beamten” mehr sind, was ihre Position stärkt, aber parteipoltische Einflussnahmen noch nicht ausschließt.
Die Richterschaft als Justiz ist nur so lange unabhängig, wie auch die Staatsanwaltschaft von parteipolitischen Weisungen frei ist.
Wenn etwas nicht angeklagt wird, kann es auch nicht von Richtern beurteilt werden. Wenn man zu Unrecht anklagt, ist das auch nicht das, was der Richter zu Recht auf seinem Tisch erwarten kann.
Wir müssen eine Lösung finden, welche die Gesetzesgebundenheit der Staatsanwaltschaft anders als bisher sicherstellt. Das kann man durch Gremien machen, das kann man auch durch richterliche Kontrolle wie beim Klageerzwingungsverfahren machen. Die Justizminister haben sich aber aus der juristischen Arbeit der Staatsanwaltschaft herauszuhalten.
Die Staatsanwaltschaften nennen sich scherzhafterweise manchmal Einstellungsbehörden statt Strafverfolgungsbehörden, weil mehr als 70 Prozent aller Verfahren eingestellt werden.
Ist die Staatsanwaltschaft nicht „Klassenjustiz“ insofern, als Tagediebe, Handtaschenräuber etc., wo der Sachverhalt meistens recht einfach aufzuklären ist, verfolgt, angeklagt und verurteilt werden, hingegegen Wirtschaftkriminelle, wo der Sachverhalt oftmals komplex ist, wo Sachverständige notwendig sind, weil den Staatsanwälten die erforderlichen Kenntnisse fehlen, oftmals frei ausgehen, weil die Staatsanwaltschaft kapituliert?
Ich selbst habe mich nach zwei Jahren allgemeiner Kriminalitätsbekämpfung auf das Wirtschaftsstrafrecht gestürzt, aus genau diesen von Ihnen genannten Gründen. Es gab aus vielen soziologischen Untersuchungen, beispielsweise aus den USA, die Erkenntnis, dass vornehmlich der Kleinkriminelle verfolgt wird. Boshafterweise könnte man sagen: Das entspricht dem, was die Staatsanwälte können.
Wenn es kompliziert wird, wozu die organisierte Kriminalität im allgemeinen aber insbesondere die Wirtschaftskriminalität gehört, war jedoch die Hoffnung, dass wir auch da effektiver werden können.
Man hatte zuerst in Nordrhein-Westfalen Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften gegründet, inzwischen gibt es überall schwerpunktmässig arbeitende Wirtschafts-Staatsanwälte.
Jedoch, wir sind, aus meiner Sicht gesehen, letztlich gescheitert. Die Justiz hat nicht die finanziellen Resourcen gehabt, um genügend gute Fachleute einzustellen. Und neben den Fachleuten muss die Justiz Staatsanwälte haben, die den energischen Willen haben, Straftaten zu verfolgen. Das ist nichts Anstössiges, wie manche „fortschrittliche“ Menschen meinen.
Verfolgungswillen zu haben, und sich auch wehzutun beim Arbeiten, und nicht nachzugeben, ohne diesen starken Willen wird man bei schwierigen Komplexen keinen Erfolg haben.
Und daran fehlt es neben der Masse und den Resourcen. Es ist nicht so sehr die fehlende wirtschaftliche Ausbildung der Staatsanwälte, es ist der Wille, zu verfolgen und natürlich die Möglichkeiten der Unterstützung durch die Polizei und durch Wirtschaftsfachleute, die uns nach wie vor weitgehend fehlen.
Nun haben im anglo-amerikansichen Rechtsssystem Staatsanwaltschaft und Polizei einen anderen Namen: Law Enforcement Agencies, Behörden, die das Recht durchsetzen, zur Geltung bringen sollen. Entspricht dieser Nennung nicht auch eine unterschiedliche Denk- und Handlungweise?.
Das würde ich nicht so sehen
Die englische Bezeichnung gefällt mir, die hätte ich aber auch auf meine Arbeit und die meiner Mitarbeiter angewendet sehen wollen. Der Staatsanwalt, flapsig gesagt, als Rächer aller Witwen und Waisen und aller andereren Geschädigten.
Der Staatsanwalt ist eigentlich ein Opferanwalt. Er soll denen, die den Mächtigen zum Opfer gefallen sind, ob durch Gewaltttäter oder durch Mächtige in Wirtschaft und Politik, denen soll der Staatsanwalt helfen. Das war die Idee und da muss man das Recht durchsetzen und deswegen werden Verteidiger und Staatsanwälte dieselbe Sache immer von verschiedenen Seiten betrachten, und betrachten müssen, aber Strafverfolgung ist nicht etwas Unanständiges sondern zwingend Nötiges.
Kommen wir auf die sich verändernde Kriminalität zu sprechen. Nun haben wir ja eine Finanz-und Wirtschaftskrise , die zum Teil durch verantwortungsloses Verhalten sprich: Zockerei ausgelöst wurde, mit enormen Schäden für die Wirtschaft mit konsekutiver Arbeitslosigkeit. Mit Schäden, die letztlich von der gesamten Gesellschaft getragen werden müssen, die aber, sofern man das jetzt beurteilen kann, meist nicht als strafbares Verhalten eingestuft werden können, auf der anderen Seite aber Tagediebe im Rückfall zu erheblichen Strafen verurteilt werden.
Führt dieses diskrepante Vorgehen, das aber den Strafgesetzen entspricht, nicht zu einer massiven Erschütterung des Vertrauens in Justiz und Staat?
Doch, ich sehe das auch so, die Leute sind verzweifelt und geraten neben Verzweiflung in Zorn, wenn sie sehen, je höher man sitzt, und je weiter man agieren kann, und je mehr Geld man hat, umso mehr wird man von der „Eierdieb-Verfolgung“ der Staatsanwaltschaft verschont.
Man muss nur sich darüber im klaren sein, dass das Problem sich durch nationale Staatsanwaltschaften allein nicht mehr lösen lässt.
Das ist ein internationales Problem und internationales Ueberwachungsproblem. Ich bin sehr dafür, dass man nicht versucht, dies mit örtlichen Staatsanwaltschaften auf dem Lande zu verfolgen, sondern dass man die ja vorhandenen Kontrollmöglichkeiten, die nicht genutzt wurden, von denselben Staaten, die jetzt auf die Banker schimpfen, dass man diese Ueberwachungs- und Kontrollmöglichkeiten ausnutzt und wenn dann jemand dagegen verstösst, dann kann ihn auch die Staatsanwaltschaft verfolgen.
Wenn wir einmal zurückblicken in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts, in einer Zeit, in der Sie ihre juristische Ausbildung hinter sich gebracht haben, da gab es ja eine relativ überschaubare Kriminalität.
Ich erinnere mich beispielsweise an Leute wie den Herrn Schuessler in Frankfurt, seines Zeichens Hehler und Inhaber des berüchtigten Lokals „Sonne von Mexiko“. Ein Ganove „mit Herz“. Zu seiner Beerdigung 1967 kamen 1000 polizeibekannte Ganoven aus ganz Deutschland angereist, die Polizei kannte sie und sie kannten die Polizei, oder „die Schmiere“ , wie sie sie nannten.Wir haben es aber heute mit bandenmässigen Zusammenfassungen von Kriminellen aus aller Herren Länder zu tun, mit Mafia-Strukturen.
Jürgen Roth hat gerade ein Buch über die massive Präsenz der italienischen Mafia in Deutschland veröffentlicht. Sind sowohl die Polizei, als auch die Staatsanwaltschaft gegenüber dieser organisierten Kriminalität nicht macht- und hilflos?
Ja, boshaft gesagt, wir leben in einer Parallelwelt. Diese Leute nehmen die Staatsanwaltschaft ja gar nicht wahr, geschweige denn ernst, weil die Welt der deutschen Staatsanwälte und die Welt dieser Kriminellen nichts miteinander zu tun haben. Die Problematik liegt auch hier in der Internationalität, die Köpfe sitzen alle nicht in Deutschland, an die Köpfe kommen wir nicht heran, weil wir nach wie vor, allem Gerede zum Trotz, rein national agieren. Und wenn die Damen und Herren so klug sind, Leichen auf den Strassen zu vermeiden, was ihnen fast immer gelingt, dann wissen wir von nichts.
Wie könnte man denn dieses Problem überhaupt in den Griff bekommen? Durch Verstärkung der Polizei oder durch Einschleusen von Undercover Agents? Sie haben während Ihrer Dienstzeit es ja in Berlin mit derartigen mafiösen Strukturen zu tun gehabt. Ich erinnere an die Zigarettenmafia. Sehen Sie das nicht als gewaltige Herausforderung an?
Ja, aber wir sind machtlos zur Zeit. Wir haben in Berlin eine ganze Reihe von sehr engagierten Strafverfolgern im Bereich der organisierten Kriminalität gehabt, insbesondere auch im Bereich Menschenhandel und Rauschgift natürlich. Das Problem ist, wie bei einer Parallelwelt, die Polizei hat keine Kontakte zu diesen Gruppen und Sie können in ausländische und damit fremdsprachliche kriminelle Vereinigungen keine Udercover Agents einschleusen, Sie können dort keinen Berliner oder Bayern hinschicken.
Die Leute aus diesen Gruppen selbst abzuwerben, das erfordert derartige finanzielle Mittel und auch ein Umdenken in unserer Mentalität, darauf sind wir gar nicht eingestellt.
Also mit anderen Worten, es fehlt auch der politische Wille, dieser Kriminalität substantiell zu Leibe zu rücken?
Die Politik nimmt dieses Problem aus meiner Sicht nicht recht zur Kenntnis
Aber die Leichen sind doch da.
Ja, aber vergleichsweise zum Ausmass dieser Kriminalität relativ selten. Und wenn sie da sind, dann wird auch ermittelt, und dann schütteln die italienischen Strafverfolger den Kopf über die tumben und einfältigen Deutschen, und nehmen in Italien den einen oder anderen fest, aber das Ausmass dieser organisierten Kriminalität in Deutschland steht aus meiner Sicht in keinem Verhältnis zu den Auffälligkeiten, sprich Leichen, oder anderen Vorfällen.
Kommen wir auf ein relativ aktuelles Thema zu sprechen: Mögliches strafbares Verhalten deutscher Soldaten in Afghanistan, wie Folter, Tötung von unbeteiligten Zivilisten etc
Wie lässt sich denn ein derartiges Verhalten strafverfolgungsrechtlich in Deutschland überhaupt in den Griff bekommen?
Na jedenfalls nicht so, wie es jetzt versucht wird, dass die Staatsanwaltschaft Potsdam, weil sie nun per Zufall neben dem Einsatzkommando für Afghanistan sitzt,und dann andere deutsche Staatsanwaltschaften mit deutschem Strafrecht angebliche oder wirkliche Notwehr in einjährigen Ermittlungen in Afghanistan klären müssen.
Wenn man einen Guerillakrieg führt, das aber nicht so nennen darf, dann muss man nach Regeln des Guerillakrieges arbeiten, die sind vielleicht etwas anders, als mancher sich das vorgestellt hat. Oder man muss es lassen. Man muss nicht die alte Militärgerichtsbarkeit wieder einführen, aber man muss spezialisierte Staatsanwälte haben, die wissen, was überhaupt dort geschieht. Man muss natürlich Einsatzregeln haben, die nicht so unrealistisch sind, wie sie es bisher waren.
Wir haben kein Kriegsstrafgesetzbuch, und nach unserer Vergangenheit wollen wir auch keins, ich auch nicht. Man muss realistischerweise aber die Vorstellungen, die man für Polizeieinsätze zum Glück hatte, ändern, man kann diese nicht auf Kriegssituationen anwenden.
Kommen wir noch einmal auf Ihre Zeit in Berlin zurück. Da sind natürlich einige Äusserungen ihrerseits gefallen, die ich in meinem Vorspann erwähnte. Vielleicht nehmen Sie die Gelegenheit wahr, um das in der einen oder anderen Weise klarzustellen.
Ja unglücklich bin ich über diese Äusserungen auch, und wenn ich sie läse, und mich nicht kennen würde, wäre ich erschrocken.
Ich kann dazu nur sagen, was jeder sagt, wenn man eine mehrstündige Unterhaltung mit einem Journalisten führt, und versucht, dem Journalisten seine Ansichten wenigstens klarzumachen, der Journalist aber sich auf mein Anliegen nicht einlässt: Zwei bis drei Formulierungen, die ich nicht hätte machen sollen, die in der Erregung des Versuchs, den anderen zu überzeugen, gemacht wurden, bleiben aus einem mehrstündigen Gespräch schliesslich übrig.
Ganz fair ist das auch nicht.
Seien Sie sicher: Ein Rassist bin ich ganz gewiss nicht.
Insbesondere nach Kapitalverbrechen, aber nicht nur dann, werden reflexhaft Forderungen in der Bevölkerung nach härterer Bestrafung der Täter bis hin zur Todesstrafe laut.
Meinen Sie nicht, dass ein Generalstaatsanwalt sich mit populistischen Forderungen zurückhalten sollte?
Nein, das sehe ich ganz anders. Wenn wir den falschen Forderungen in der Bevölkerung nach Todesstrafe, nach möglichst harter unbeugsamer Bestrafung von Bagatelldelikten vernünftig begegnen wollen, , dann muss die Bevölkerung den Eindruck haben, dass an der Spitze der Staatsanwaltschaft ein durchaus verfolgungswilliger, notfalls harter, Staatsanwalt steht. Nur solchen Persönlichkeiten wird man glauben, dass es falsch ist, beispielsweise die Todesstrafe zu fordern.
Wenn Sie da ein sogenanntes „Weichei“ hinstellen, der vor Mitleid mit allem zerfliesst und den Menschen nicht den Eindruck vermitteln kann, dass es nötig ist, dass man als Staatsanwalt konsequent tätig wird, dann werden sie solche falschen Forderungen aus der Bevölkerung nicht vermindern, sondern verstärken.
Seinerzeit hiess es in der Berliner Presse , dass sie das ramponierte Vertrauen der Bevölkerung in die Berliner Justiz zu verantworten haben
Ich halte das für dummes Zeug und Verleumdung. Mir ist jedenfalls aus der Bevölkerung eine solche Reaktion nie bekannt geworden. Die Bevölkerung war mit mir offenbar durchaus zufrieden. Dass einige Politiker und mit denen zusammenarbeitende Journalisten das nicht wahrhaben wollen, ist betrüblich, kann mich aber nicht erschüttern
Kommen wir noch auf den Strafvollzug zu sprechen
Das ist ja nun die Massnahme der Gesellschaft gegen den verurteilten Straftäter und da häufen sich Berichte über Gewaltausbrüche der Insassen gegeneinander: Von Vergewaltigung bis zum Tötungsdelikt, insbesondere, aber nicht nur, in Jugendstrafanstalten. Was sollte man tun. Sie haben ja eigene Erfahrung aus ihrer Zeit als Referent im hessischen Justizministerium?.
Ja, ich war mal Sicherheitsreferent für die hessischen Justizvollzugsanstalten. Wir haben ein Werteproblem, wir haben ein Erziehungsproblem. Wir müssen versuchen, die Gefangenen zu erziehen, Das ist schwer, weil bis dato bei dem einzelnen Häftling alle Erziehungsversuche ja schon gescheitert sind, sonst wären sie nicht inhaftiert.
Wir müssen aber ein Menschenbild haben, zu dem wir hinerziehen wollen, und das ist weitgehend verloren gegangen. Das Personal wurde abgebaut, das Erziehungspersonal, ob in Uniform oder ohne, alle müssen dort erziehen wollen, aber das Personal hat sich weitgehend zurückgezogen.
Die Zellentüren sind offen, die Gefangenen können sich in den Anstalten oft praktisch frei bewegen und niemand ist mehr da, der dem Missbrauch der Gefangenen untereinander Grenzen setzt. Das ist jetzt etwas übertrieben, aber das ist die Tendenz. Und das ist das Gegenteil von Erziehung. Wir kommen jetzt dahin, was man immer gesagt hat, dass man in den Anstalten erst verdorben wird.
Die Gesellschaft hat ihren Erziehungsauftrag abgemeldet.
Der freie Vollzug, also der offene Vollzug mit Freigang tagsüber, wird zunehmend eingeschränkt. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Die ist falsch und hochgefährlich. Wir müssen die Leute während einer gewissen Anfangszeit, das ist unterschiedlich, einem geschlossenen Vollzug unterwerfen, um ein Korsett des Tagesablaufs wieder in die Leute zu bekommen, sie wieder an gewisse Abläufe zu gewöhnen.
Dann muss man sie trainieren, in der Freiheit, die ja nach ganz anderen Regeln abläuft, und zwar mit Versuchungen und Belastungen, zu gewöhnen. Das braucht hochqualifiziertes und engagiertes Personal und viel Geld. Beides ist nicht ausreichend da.
Nun ist es ja bei den Jugendlichen, bleiben wir noch einmal bei dem Thema, dass sie nach Verbüssung der Strafe wieder in ihre alte Umgebung zurückkommen, die ja mit ursächlich für die Straffälligkeit war. Sehen sie denn mit den Entlassungspapieren die Aufgabe der Gesellschaft als erledigt an?
Nein der Strafvollzug kann ja nur ein verzweifelter Versuch sein, vorübergehend die Menschen mit einer anderen Lebensform bekannt zu machen. Oft können sie sich das ja gar nicht leisten, wenn sie in ihr Milieu zurückkehren, das zu praktizieren, was sie gelernt haben, das überleben sie da nicht.
Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das fängt im Kindergarten an und geht über die Jugendämter weiter.
Der Strafvollzug kann, entgegen der Auffassung vieler, nur eine vorübergehende Hilfsmassnahme sein abgesehen von denjenigen, die es ja auch gibt, die man auf Dauer wegsperren muss, weil sie nicht behandelbar sind.
In den letzten Monaten haben Sexualverbrechen an Kindern Schlagzeilen gemacht. Neben den Forderungen nach härterer Bestrafung stellt sich dann doch in einigen Fällen heraus, dass gutachterlich nach einer früheren Straftat eine positive Prognose abgegeben wurde, eine falsche Prognose. Wie sehen Sie das Problem der gutachterlichen Beurteilung dieser Täter?
Das Gutachterproblem ist ein altes ungelöstes Problem, und Gutachter geben ausserhalb des Gerichtssaals, wenn sie ehrlich sind, auch zu, dass sie in vielen Fällen auch nicht mehr wissen als der Laie. Wir wissen nicht, wie die Menschen sich entwickeln bis zur Ersttat , weil wir sie da ja noch nicht kennen, und wir wissen oft nicht, auch die Gutachter nicht, wie sie sich danach entwickeln werden. Da ist ein gewisses Restrisiko nicht zu vermeiden, und die Gesellschaft macht sich da falsche Hoffnungen.
Wir müssen uns darum bemühen, wieder in der Gesellschaft nicht soziale Kontrolle, aber soziale Kontakte bekommen, die verhindern, dass Kinder weggefangen werden können.
Es mag ja sein dass die Zahl der Verbrechen an Kindern zurückgegangen sind, aber auch ich lebe in der Vorstellung, wenn ich kleine Kinder hätte, dass ich die nicht mehr einfach auf der Strasse spielen lassen könnte..
Das hält eine Gesellschaft auf Dauer nicht durch.Da müssen wir wieder zu Nachbarschaftsverhältnissen kommen, und zu Lebensverhältnissen, die uns die Möglichkeit geben, die Kinder nicht zu überwachen, aber doch so viel Kontakt zu ihnen zu haben, dass sie nicht einfach verschwinden können.
Meinen Sie, dass eine „Zero- tolerance- Politik“ , wie sie einerzeit der damalige Generalstaatsanwalt Giuliano in New York durchgesetzt hat, der richtige Weg ist? Oder sollte nicht vielmehr Ursachenforschung betrieben werden und Bedingungen, die zu Kriminalität führen, zu beseitigen?
Das ist ein Gegensatz, den es aus meiner Sicht so nicht gibt.
Es kommt auf die Delikte an . Ich bin der Meinung, dass man bei Beschmierungen, Verschandelungen und Schwarzfahren, das man ständig betreibt, weil man ja sagt, die Bahn fährt trotzdem, andere sind so doof, das zu bezahlen, dass man in gewissen Bereichen Null-Toleranz üben sollte, damit die Jungen und Mädchen gleich merken, dass derartiges Verhalten nicht hingenommen wird.
Eine andere Frage ist, wo die Ursache dafür liegt. Das ist aber nicht Aufgabe der Justiz, das ist Aufgabe derjenigen, die erziehen. Aber immer zu sagen „sehen wir darüber hinweg“ hat zu den Zuständen in New York geführt, die mit Erfolg beseitigt wurden.
Ich sehe nicht ein, dass es falsch sein soll, bei bestimmten Delikten von Anfang an zu sagen: Wir als Gesellschaft nehmen das nicht hin. Wie die Sanktionen aussehen sollen, das muss ja nicht Gefängnis sein, das kann ja auch ein belehrendes Gespräch sein, ist eine andere Frage. In bestimmten Bereichen bin auch ich für Null-Toleranz
Eine Kultur der Kostenlosigkeit wurde durch das Internet geschaffen. Kann sich eine derartige „Kultur“ nicht in andere gesellschaftliche Bereiche auch ausbreiten mit den entsprechenden Folgen?
Sicherlich, das ist ein ganz grosses Problem. So wunderbar es ist, dass man heute Möglichkeiten hat, von denen man vor ein paar Jahren noch nicht einmal zu träumen wagte, so müssen bestimmte Kulturgüter , dazu gehört auch das Urheberrecht, verteidigt werden.
Und wir können nicht zulassen, dass jeder meint, er habe Anspruch auf „Alles zum Nulltarif“ .
Die Gesellschaft wird, mit diesen Entwicklungen konfrontiert, ganz erheblich umdenken müssen.
Nun ist es ja so, dass im Internet eine eigene Kriminalität sich ausgebreitet hat, genannt sei die Kinderpornografie. Sehen Sie, dass die Staatsanwaltschaften dieser Herausforderung gewachsen sind? Kann die Antwort darauf nur sein, dass man eine verschärfte Zensur herbeiführt wobei dann noch unklar ist, wer diese Zensur eigentlich ausüben soll?.
Ich halte das für völlig hoffnungslos. Erstens: Zensur ist verfassungswidrig. Zweitens: Es ist ein internationales Problem, ich glaube nicht, dass man das mit nationalen Gesetzen in den Griff bekommt.Es ist eine Frage der Erziehung. Es gab früher die Vorstellung, dass man bestimmte Dinge nicht tut, die Vorstellungen über das, was man nicht tut, mögen sich ändern, aber dass man keine kinderpornografischen Inhalte auf seinen Computer lädt, sollte eigentlich jeder wissen und das kann man auch mit Erziehung vermitteln.
Kommen wir noch einmal zurück auf den Strafprozess, genauer gesagt auf die sogenannten Absprachen prozessual oder vorprozessual salopp ausgedrückt „Strafmass-Basarverhandlungen“ oder "Kungelei". Auch in dem Susanne Klatten-Gigolo Prozess bestand ja der Verdacht, dass derartige Verhandlungen der Prozessbeteiligten stattgefunden hatten . Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Es ist für mich das Ende des geordneten Strafverfahrens. Die Regeln, die der Bundesgerichtshof (BGH)aufgestellt hatte, wurden nicht eingehalten, Revisionen wurden vom BGH dennoch verworfen .
Die Errungenschaft der französischen Revolution, die Oeffentlichkeit der Hauptverhandlung, die Teilnahme der Bürger an der Strafjustiz, ist beerdigt worden mit der Behauptung, die Justiz sei überlastet.
Die Überlastung muss man überprüfen und ggf. müssen eben mehr Richter eingestellt werden.
Unter dem Argument „wir schaffen es nicht“ das geordnete Strafverfahren, das wir bisher hatten, abzuschaffen ist eine Katastrophe.
Wird es also in der Zukunft vermehrt „faule Deals“ geben?
Es wird in der Zukunft wohl in schwierigen Verfahren nur noch „Deals“ geben. Wie faul sie sind, hängt vom Charakter der Beteiligten ab, aber Sie können davon ausgehen, dass das Verfolgen der Wahrheitsfindung bei erheblichen Straftaten oft nicht mehr gewährleistet ist.
Würde dies in letzter Konsequenz bedeuten, dass die seinerzeitige, in den 60er Jahren vollzogene Abschaffung des Geschworenengerichts in der Form, dass die Laienrichter die Mehrheit haben und über schuldig oder unschuldig nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung entscheiden, und das es ja nach wie vor in anderen Ländern gibt, ein Fehler gewesen ist?
Das war schade, weil die Vorstellung der Bürger, an der Urteilsfindung massgeblich beteiligt zu sein, ein ganz wesentlicher Grund für das Vertrauen der Bürger in die Justiz war, und deshalb war das wohl der falsche Weg.
Vielen Dank für dieses Interview
Kurzer Prozess für den Klatten-Gigolo?
Klatten-Gigolo Prozess: Grund zur Zufriedenheit?
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onlinedienst - 2. Aug, 09:47 Article 12568x read